Japan:Wie Japans Politiker den Glauben nutzen, um ihre Macht zu stärken

Japan: Shinzo Abe bei seinem Besuch des umstrittenen Yasukuni-Schreins in Tokio im Dezember 2013.

Shinzo Abe bei seinem Besuch des umstrittenen Yasukuni-Schreins in Tokio im Dezember 2013.

(Foto: TORU YAMANAKA/AFP)

Der ermordete Ex-Premierminister Shinzo Abe war ein leidenschaftlicher Vertreter der Staatsreligion Shinto. Zugleich hatte er engen Kontakt zur Vereinigungskirche. Das sagt viel über die Verbindung von Politik und Religion in Japan.

Von Thomas Hahn, Tokio

Es fällt vielen Menschen in Japan ungewöhnlich schwer, sich einig zu sein seit dem Tod ihres Rekord-Premierministers Shinzo Abe. Zwei Wochen ist es her, dass Abe bei einer Wahlkampfrede in Nara erschossen wurde. Und zum Ringen von Polizei und Medien um die Wahrheiten des Attentats kommt der Streit. Die größte Faktion in der Regierungspartei LDP hat sich noch nicht auf einen Nachfolger für ihren Anführer Abe festlegen können. Es gibt unterschiedliche Auffassungen über Abes rechtsnationales Vermächtnis. Selbst der Kabinettsbeschluss, Abe am 27. September mit einem Staatsbegräbnis zu ehren, erregt Widerstand: Eine Bürgerinitiative klagt auf Unterlassung, weil bei der Entscheidung das Parlament übergangen worden sei. Am Freitag demonstrierten deshalb ein paar Hundert Menschen vor dem Amtssitz des Premierministers in Tokio.

Und dann ist da ja noch das Thema Religion. Ein großes Thema. Denn das Attentat von Nara hat die Aufmerksamkeit auf eine Verbindung Shinzo Abes gelenkt, welche die Glaubwürdigkeit der LDP als treue Vertreterin des Shinto-Staats infrage stellt. Schon am Tag nach dem Mord verlautete aus Ermittlerkreisen das Motiv des festgenommenen Tetsuya Y.: der Kontakt Abes zu einer religiösen Organisation, an welche Y.s Mutter ein Vermögen gespendet habe. Mittlerweile steht fest: Bei der Organisation handelte es sich um die Vereinigungskirche aus Südkorea.

Shinzo Abe, nach außen immer ein gläubiger Shintoist, stand in Kontakt zu dieser neuen religiösen Bewegung, die offiziell "Familienföderation für Weltfrieden und Vereinigung" heißt. Tomihiro Tanaka, Präsident der Vereinigungskirche in Japan, bestätigte auf einer Pressekonferenz: "Ex-Premierminister Abe hat Botschaften zu Events gesendet, die von unserer Freundschaftsgruppe organisiert wurden." Tanaka nannte auch den Namen der Gruppe: Universal Peace Federation (UPF). Und nun kann sich also jeder im Internet davon überzeugen, dass Shinzo Abe im September 2021 per Videobotschaft bei einer UPF-Kundgebung sagte: "Ich schätze die UPF für ihren Fokus auf Familienwerte."

Abe auf Abwegen?

Shinzo Abe war ein strammer Nationalist. Japans Staatsreligion spielte dabei eine wichtige Rolle. Seine Politik sah mehr Shinto in der Schulbildung vor und ein offeneres Bekenntnis zur kaiserlichen Tradition, nach welcher der Tenno bis zum Zweiten Weltkrieg göttlichen Ursprungs war. Das Gebet war ihm wichtig, der regelmäßige Besuch des Ise-Schreins, einer der wichtigsten Shinto-Pilgerstätten. Und 2013 verärgerte er die Nachbarn China und Südkorea, weil er als Regierungschef den Yasukuni-Schrein in Tokio besuchte, in dem mehrere japanische Klasse-A-Kriegsverbrecher in Ehren gehalten werden.

Warum der Flirt mit der Moon-Sekte?

Wie passt das zu seinem Flirt mit der umstrittenen Vereinigungskirche des 2012 verstorbenen, vermeintlichen Jesus-Beauftragten Sun Myung Moon? Gar nicht so schlecht, findet Yoshihide Sakurai, Soziologie-Professor und Religionsforscher an der Hokkaido-Universität in Sapporo.

Religiöse Einflüsse prägen auch Politikerinnen und Politiker in Amerika oder Europa. Allerdings sind diese dann meistens tatsächlich gläubig und verfolgen mit ihrer Politik die Werte, die sie aus dem Glauben ableiten. In Japan ist das etwas anders.

Nach Sakurais Erkenntnis geht es gerade Japans Konservativen vor allem um Macht und Wahlerfolge. Der Zweck heiligt demnach die Nähe zu jeder erdenklichen religiösen Gruppe. "Außer der Kommunistischen Partei haben japanische Politiker Unterstützung von verschiedenen religiösen Gruppen bekommen", erklärt Sakurai. Ein Politiker lasse sich dabei durchaus von mehreren Religionen unterschiedlicher Glaubensrichtungen helfen.

Japans Verfassung schreibt die Trennung von Religion und Politik vor. Aber die Realität ist anders. Die LDP zum Beispiel ist stark beeinflusst von der rechtsradikalen, shintoistischen Organisation Nippon Kaigi, auf Deutsch: Japan-Konferenz. Nippon Kaigi verklärt die Kaiserzeit vor 1945, relativiert Japans Kriegsschuld, will die pazifistische Verfassung ändern und vertritt veraltete Rollenbilder. Wer für die LDP neu ins Parlament kommt, bekommt gleich ein Angebot, Mitglied zu werden. So gut wie alle folgen, denn Nippon Kaigi hilft, Stimmen zu beschaffen. Abe war ein besonders loyaler Nippon-Kaigi-Vertreter.

Politischer Arm der Buddhisten

Der kleine LDP-Koalitionspartner Komeito wiederum wurde in den 1960er-Jahren von Mitgliedern der buddhistischen Organisation Soka Gakkai gegründet. Soka Gakkai ist heute die größte neue religiöse Bewegung in Japan. Komeito gilt als ihr politischer Arm, der bei jeder Wahl auf ein Grundkapital an Stimmen vertrauen kann. Die LDP will davon profitieren, deshalb sieht sie heute über die Tatsache hinweg, dass Komeito einst eine fast aktivistische Oppositionspartei war.

Und die Vereinigungskirche? Hat sich über die Jahrzehnte von einer nationalistischen südkoreanischen Sekte zu einem Firmengeflecht des rechten Denkens entwickelt. Antikommunismus und traditionelle Familienbilder gehören zu ihrem Angebot, deshalb unterstützt sie Konservative in verschiedenen Ländern. Schon Shinzo Abes Großvater Nobusuke Kishi, Premierminister von 1957 bis 1960, hatte Verbindungen zur Vereinigungskirche. Abe folgte dem Beispiel. Die Massenvermählungen der Kirche, die Gehirnwäsche für Neueinsteiger, die Spendenforderungen, die schon viele Mitglieder ruiniert haben - all das interessierte Abe offensichtlich wenig. Es ging ihm um zusätzliche Wählerstimmen. "Für elitäre Politiker war die Kraft der Vereinigungskirchen-Mitglieder sehr nützlich. Auf der anderen Seite nutzte die Vereinigungskirche den Namen für ihre Interessen", sagt Yoshihide Sakurai.

Das bedeutet, japanische Politiker haben eigentlich gar keinen Glauben? Yoshihide Sakurai lacht. "Richtig. Kein Glaube."

Shinto ist für viele Japaner eher ein Lifestyle

Kein Wunder eigentlich. Japans Gesellschaft ist im Kern weltlich. Bei Trauerfeiern hält man sich an den Buddhismus. Im Dezember nutzt der Einzelhandel das christliche Weihnachtsfest als Verkaufsargument. Zum Beten geht man in den Shinto-Schrein. Shinto wiederum hat keine Schrift wie die Bibel oder den Koran, wenig moralische Orientierung. Stattdessen Kami, Götter oder Exzellenzen, die sich in allen Dingen des Lebens befinden, und diverse Rituale, die vor allem das Leben des Kaisers, des Shinto-Hohepriesters, bestimmen. Viele Menschen in Japan nehmen Shinto gar nicht als Religion wahr, sondern eher als Teil eines Lifestyles.

Für Shinzo Abe war es sicher mehr. Für andere Politiker auch. Aber nicht im Sinne eines frommen Gottesbezugs. "Sie wollen damit der Öffentlichkeit ihren Patriotismus zeigen", sagt Yoshihide Sakurai. Aus seiner Sicht ist Shinto Teil einer raffinierten Massenmanipulation. "Vor der Meiji-Zeit bis 1868 war Shinto eher ein spiritueller Volksglaube." Danach lud Japans Regierung Shinto mit Bedeutung auf und inszenierte den Inselstaat damit vor allem vor und während des Zweiten Weltkrieges als auserwählte Nation. Heute vermittelt Shinto ein eher vages Heimatgefühl. "Es ist eine sehr, sehr künstliche Religion", sagt Yoshihide Sakurai. So künstlich, dass sich die Nähe zur Vereinigungskirche für Shinzo Abe sicher nie falsch anfühlte.

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