Energieversorgung:Grüne lockern strikten Anti-Atom-Kurs

Energieversorgung: Wasserdampf steigt aus dem Kühlturm des Atomkraftwerks Isar 2.

Wasserdampf steigt aus dem Kühlturm des Atomkraftwerks Isar 2.

(Foto: Armin Weigel/dpa)

Die Parteispitze signalisiert Bereitschaft, notfalls einer sechsmonatigen Laufzeitverlängerung für Isar 2 zuzustimmen. Falls im nächsten Winter eine Strommangellage droht.

Von Markus Balser und Constanze von Bullion, Berlin, und Max Ferstl, Stuttgart

Wachsende Unsicherheit über die Energieversorgung macht es wahrscheinlicher, dass Atomstrom noch etwas länger fließen wird als zuvor geplant. Am Montag kündigte der russische Konzern Gazprom an, die Gaslieferungen durch die Pipeline Nordstream 1 von Mittwoch an erneut zu drosseln, auf zwanzig Prozent der vollen Kapazität. Grund sei die Wartung einer weiteren Turbine. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sagte, es gebe keine technischen Gründe für die Lieferkürzungen, Russlands Präsident Wladimir Putin treibe ein "perfides Spiel". Damit steigt auch der Druck auf die Bundesregierung, Kernkraftwerke am Netz zu halten. Führende Grüne haben inzwischen ihre Bereitschaft signalisiert, vom strikten Anti-Atom-Kurs der Partei abzuweichen.

Falls in Bayern im nächsten Winter eine Strommangellage droht, könnte das Kernkraftwerk Isar 2 sechs Monate länger laufen, um fehlendes russisches Gas für die Stromproduktion auszugleichen. Darüber herrscht nach Informationen der Süddeutschen Zeitung in den Führungsgremien der Grünen Einvernehmen. Zwingende Voraussetzung dafür ist aus Sicht von Wirtschaftsminister Robert Habeck allerdings, dass bei einem zweiten, bundesweiten Stresstest der Stromversorgung der Nutzen des vorübergehenden sogenannten Streckbetriebes seine Risiken übersteigt. Eine generelle Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke durch den Kauf neuer atomarer Brennstäbe lehnen die Grünen ab.

Die Parteispitze sieht in den Plänen eine vorübergehende Notlösung, die auf Bayern beschränkt bleibt. Dort könnte es im Winter zu riskanten Stromengpässe kommen, weil Stromtrassen und Windräder nicht gebaut wurden und die Abhängigkeit von russischem Gas besonders hoch ist.

Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne), zuständig für nukleare Sicherheit, trägt eine vorübergehende Streckung der AKW-Laufzeiten grundsätzlich mit - falls der zweite Stresstest ein für Bayern kritisches Ergebnis zeigen sollte. Allerdings wies sie zuletzt immer wieder auf noch ungelöste Sicherheitsfragen hin. "Ohne eine periodische Sicherheitsüberprüfung können die Atomkraftwerke nicht weiterlaufen, das wäre atomrechtlich in Deutschland, aber auch außerhalb nicht möglich", sagte ihr Sprecher in Berlin.

Alle drei in Deutschland noch laufenden Kernkraftwerke hätten bereits 2019 einem Sicherheitscheck unterzogen werden müssen, der wegen des geplanten Atomausstiegs aber entfiel. Er dauert normalerweise Monate, manchmal sogar Jahre. Ob der Test erneut ausgesetzt werden soll, blieb am Montag unbeantwortet. Ein monatelanger Stillstand würde den Wintereinsatz gefährden. Man stelle derzeit eine "Risiko-Nutzen-Analyse" strikt nach Faktenlage an, sagte eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums. "Die Entscheidung ist dann aber natürlich eine politische."

Dass neben dem bayerischen Kernkraftwerk Isar 2 noch einem weiteren der drei verbleibenden AKWs der Weiterbetrieb erlaubt wird, gilt in Regierungskreisen als unwahrscheinlich. Denn nur in Bayern könnte der Reaktor mit den geladenen Brennstäben zusätzlichen Strom liefern. Auch die Sicherheitsvoraussetzungen seien besser. Die anderen Meiler Neckarwestheim und Emsland könnten wohl nur dann im nächsten Jahr ohne zusätzliche Brennelemente Strom liefern, wenn sie im laufenden Jahr ihre Stromliefermengen entsprechend kürzen. Zudem sei der technische Sicherheitsaufwand für einen Weiterbetrieb höher als bei Isar 2.

Selbst eine kurze Laufzeitverlängerung zieht in der deutschen Energiepolitik massive Konsequenzen nach sich. Per Gesetz ist der Betrieb von Atomkraftwerken ab dem Jahreswechsel in Deutschland verboten. Nötig wäre nicht nur eine Gesetzesänderung. Die Regierung müsste auch klären, ob sie das bislang von den Konzernen getragene Haftungsrisiko für den AKW-Betrieb und mögliche Unfälle schultert. Die Betreiber, die es bislang tragen, wollen es nicht länger tragen. Sie hatten im März klargestellt, dass für sie eine Laufzeitverlängerung nur dann infrage käme, wenn der Staat die volle Verantwortung für den AKW-Weiterbetrieb übernähme.

Der Union reicht der Kurswechsel der Grünen noch lange nicht. Sie fordert deutlich längere Laufzeiten. "Angesichts der derzeitigen Energiekrise" mit "explodierenden Preisen" und der "enormen Stromknappheit in Frankreich" reiche nur der Streckbetrieb des Kernkraftwerkes Isar 2 nicht aus, warnt Mark Helfrich, Fachsprecher für Energiepolitik der CDU/CSU-Fraktion. "Die Laufzeiten der drei Kernkraftwerke müssen für die Dauer der Energiekrise befristet verlängert und dafür neue Brennstäbe beschafft werden", fordert Helfrich. Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) schließt eine Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken nicht mehr aus.

Umweltschützer reagieren entsetzt auf die Debatte. "Wenn der zweite Stresstest eine Stromlücke für Bayern zeigen sollte, dann ist das die Quittung für den langjährigen Boykott der CSU beim Ausbau der erneuerbaren Energien", kritisierte Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital. Die CSU habe den nötigen Netzausbau mit angeblichen "Monstertrassen" dämonisiert und den Windkraftausbau mit überzogenen Abstandsregeln gestoppt. "Niemand darf sich wundern, dass zu wenig Strom nach Bayern kommt", sagte er. Die Antwort auf mögliche Stromengpässe könne keine Laufzeitverlängerung für ein AKW sein, "das schon jetzt mit einem Sicherheitsrabatt läuft". Stattdessen müsse die Regierung stärker Strom sparen.

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