Frankreich:Tumult und lange Nächte in Paris

Frankreich: Alle wollen die Kaufkraft stärken. Über das Wie wird Nächte lang debattiert.

Alle wollen die Kaufkraft stärken. Über das Wie wird Nächte lang debattiert.

(Foto: Adrien Fillon/IMAGO)

Die französische Regierung hat die ersten Wochen ohne Parlamentsmehrheit hinter sich. Es ist ein zähes Geschäft - auch wenn sie für ihr bisher wichtigstes Projekt einen Partner gefunden hat

Von Thomas Kirchner, München

Auch die französische Politik nähert sich den Ferien, eine Woche noch, dann ist es geschafft. Zeit für eine erste Bilanz. Denn Grundlegendes hat sich geändert im politischen Betrieb. Die Regierung hat seit den Juni-Wahlen keine Mehrheit mehr in der Nationalversammlung, sie stützt sich auf 245 von 577 Abgeordneten. Sie muss auf die Opposition zugehen, sich deren Ideen jeweils anhören und für jedes Gesetz eine neue Allianz schmieden. Es lebe der Kompromiss! Was nicht heiße, dass man sich "kompromittieren" müsse, wie Premierministerin Élisabeth Borne in ihrer Regierungserklärung beruhigte.

Es ging schlecht los für sie. Schon aus dem ersten Entwurf vor zwei Wochen - für ein Pandemieschutzgesetz, das eine Normalität ermöglichen soll - schoss die gesammelte Opposition eine zentrale Passage heraus, die eine Kontrolle des Impfstatus bei Auslandsreisen vorsah. Der Senat, das Oberhaus, bügelte das zum Teil wieder glatt, doch das Warnsignal war angekommen im Lager von Präsident Emmanuel Macron.

Umso verhandlungsbereiter gab es sich beim ersten großen Projekt, der Absicht, die Kaufkraft der Bürger in inflationären Zeiten zu stärken. Es lag nahe, dies an den Anfang zu stellen, weil das Anliegen eigentlich alle Parteien eint. Erbittert gekämpft wurde trotzdem, manchmal bis sechs Uhr morgens.

La France Insoumise (LFI) betreibt die von ihrem Chef Jean-Luc Mélenchon versprochene Beton-Opposition. Sie brachte schwer finanzierbare Vorschläge wie einen automatischen Teuerungsausgleich ein und lehnte das Gesetzespaket rundweg ab. Die Grünen schlossen sich an, während sich Sozialisten und Kommunisten, um nicht ganz so obstruktiv zu wirken, der Stimme enthielten. Das rechte Rassemblement National, das sich vorerst als respektable Kraft profilieren will, stimmte für das Gesetz, enthielt sich aber, als es um den begleitenden Nachtragshaushalt ging.

So waren es allein die bürgerlich-konservativen Republikaner, die der Regierung schließlich eine Mehrheit sicherten. Das "Verantwortungsbewusstsein" habe gesiegt, sagte Borne. Der Erfolg ist teuer erkauft, er wird die französische Schuldenquote von 115 Prozent des Bruttoinlandsprodukts weiter in die Höhe treiben. Renten und diverse Sozialleistungen würden, wenn der Senat zustimmt, um vier Prozent steigen. Geringverdiener erhalten Lebensmittelgeld, Mieterhöhungen werden begrenzt, und Unternehmer können Angestellten jährlich eine abgabenfreie "Macron-Prämie" von bis zu 3000 Euro zahlen. 20 Milliarden Euro würde das Gesetz kosten. Auch die Rundfunkgebühr ist abgeschafft, das Geld für die öffentlich-rechtlichen Sender soll künftig aus dem Haushalt kommen, genauer: von der Mehrwertsteuer.

Man streitet über Tankrabatte und Krawattenpflicht

Weit entgegen kam die Regierung den Républicains bei den Benzinpreisen. Statt den Tankrabatt von bisher 18 Cent je Liter wie vorgesehen bald auslaufen zu lassen, wird er auf 30 Cent erhöht. Die geplanten Entlastungen für berufliche Vielfahrer hingegen entfallen.

Die Debatten im ehrwürdigen Palais Bourbon sind länger geworden und tumultuöser, es wird gebrüllt und geschimpft wie nie zuvor. Das im Vergleich zum Bundestag schon bisher erhebliche theatralische Potenzial des Hauses ist kräftig gestiegen, bis hin zu Burlesken wie dem Ruf des Republikaners Éric Ciotti nach Wiedereinführung der Krawattenpflicht.

Das zielte auf die zuweilen weniger förmlich gekleideten "Unbeugsamen" Mélenchons, der den leichteren Dresscode vor Jahren durchgesetzt hatte: "sans-cravate", in Anspielung auf die "sans-culottes" der Revolution. Die LFI-Abgeordneten tragen jetzt also Schlips, aber nur die weiblichen. Der gestiegene Gesprächs- und Abstimmungsbedarf zwischen Regierung und Parlament hat so viel Zeit und Kraft gekostet, dass die Parlamentsferien bis Anfang Oktober verlängert wurden.

Für den Herbst haben die Regierenden zunächst Pläne, die wie Zuckerl für die rechten Parteien wirken. Ein neues Immigrationsgesetz soll Abschiebungen von Straftätern erleichtern und einen Sprachtest zur Bedingung für Aufenthaltsgenehmigungen machen. Danach wird es vermutlich schwieriger werden, sich durchzusetzen, etwa mit dem Gesetz, das den ökologischen Umbau voranbringen und Erneuerbare fördern soll. Macron wird für seine "Untätigkeit" in der Klimapolitik von Linken und Grünen heftig kritisiert. Vorgesehen ist laut Medienberichten unter anderem, bis 2024 zehn Prozent weniger Energie zu verbrauchen.

Und vollends in den Blockademodus dürfte die französische Politik geraten, wenn es an die schon mehrmals verschobene Rentenreform geht. Dann könnte, wie oft gemunkelt wird, der Moment kommen, da Macron den Stecker zieht und Neuwahlen ansetzt.

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