Beim Kulturverein Zorneding-Baldham:Soundtrack zum großen Welttheater

Beim Kulturverein Zorneding-Baldham: Bewegend: Der ukrainische Pianist Kyrill Korsunenko gibt im Zornedinger Martinstadl ein Benefizkonzert.

Bewegend: Der ukrainische Pianist Kyrill Korsunenko gibt im Zornedinger Martinstadl ein Benefizkonzert.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Bei seinem Ukraine-Benefizkonzert im Martinstadl beweist der Pianist Kyrill Korsunenko außergewöhnlichen Mut - und gibt dem Publikum sogar Hoffnung mit auf den Weg.

Von Ulrich Pfaffenberger, Zorneding

Es entspannen sich lebhafte Diskussionen zur Pause, drinnen im Martinstadl und draußen auf dem Hof: Kann man Bach, darf man Bach, soll man Bach so spielen, wie Kyrill Korsunenko das gerade vorgeführt hat? Nicht nur vier, wie angekündigt, sondern sogar sechs Präludien und Fugen aus dem zweiten Band des "Wohltemperierten Claviers" hatte der 31-jährige ukrainische Pianist gerade mit Vehemenz durch den Raum fluten lassen, gespielt mit beispielhafter Präzision, getrieben von innerer Begeisterung, durchdrungen mit dramatischer Energie, wie man sie bei Werken dieses Komponisten nur sehr, sehr selten erlebt. Das war kein stilisierter Barock-Bach mehr, vielmehr ein wild sprudelnder Gebirgs-Bach, vom Eise befreit, geeignet, Stein und Fels in Bewegung zu bringen. Die "fuga" verwandelt sich bei der Gelegenheit vom komplexen Gebilde in einen munteren Vorwärtsdrang, das Präludium vom Vorspiel zur ausgelebten Leidenschaft. Ja, darüber lässt sich trefflich streiten - mehr aber noch ist eine solche Interpretation geeignet, sich vom Mut und der Überzeugungskraft des Pianisten mitreißen zu lassen. Wenn Korsunenko diesen Weg weitergeht, wird ihm das Publikum zufliegen.

Man darf der Interpretation Korsunenkos getrost auch widerständische Kraft unterstellen. Gemeinsam mit dem Kulturverein Zorneding-Baldham hatte er ein Benefizkonzert zugunsten der ukrainischen Hilfsorganisation "Way Home" auf den Weg gebracht und dafür ein Programm aus Werken ukrainischer Komponisten gestaltet. Darin dann doch auch Bach zu integrieren, ist aus der Persönlichkeit des jungen Musikers heraus zu verstehen, der sich seit geraumer Zeit mit den Goldberg-Variationen befasst - durchaus ein prägender Lebensinhalt, wie Beispiele aus der Geschichte zeigen. Wer bei dieser Musik andere und sich selbst überzeugen will, kommt nicht umhin, sie zur eigenen Sprache zu erheben. Das ist mehr als "universelle Kommunikation", das zeugt von unbegrenzter Individualisierbarkeit Bach'scher Melodien, wenn man es denn will, kann und darf.

Die Bilder wirken so tief, dass der Beifall einige Momente der Stille braucht, um aus dem Staunen ins Jubeln zu wechseln

Zumal bei diesem Konzert der Hörsinn mit einer Fülle von Eindrücken adressiert wurde, die für eine ganze Abenteuerreise genügt hätten. An den Beginn hatte Korsunenko sieben polyphone Variationen über "Die ukrainische Pysanky" gestellt, einen sehr alten Osterbrauch. Dabei werden Eier mit verschiedenfarbigen Wachsschichten überzogen, in die dann mit feiner Nadel und scharfem Stift feine Ornamente geritzt, gezeichnet, geschrieben werden. Kein Muster gleicht dem anderen, die Linien folgen geometrischen Regeln ebenso wie der Intuition der Künstlerinnen und Künstler. Genau diese Atmosphäre spiegelt die Komponistin Lesjy Dytschko in ihren Variationen - und genau sie zeichnet Korsunenko mit sinnlicher Hingabe nach. Wobei er, äußerlich, kaum erkennen lässt, was ihn beim Spielen bewegt. Er gibt allein dem Ton, der Melodie, die er scheinbar aus dem Nichts reifen lässt, die Kraft, eine Botschaft zu vermitteln. Vermutlich kann man ihn dieses Stück dutzende Male spielen hören und doch jedes Mal neue Bilder empfangen. Bilder, die so lebendig sind und tief wirken, dass der Beifall einige Momente der Stille braucht, um aus dem Staunen ins Jubeln zu wechseln.

Den zweiten Teil des Konzerts erwarten die Anwesenden denn auch in gewandelter Erwartung. Wieder stehen Präludien an, diesmal von Borys Ljatoschynskyi, geschrieben in den Kriegsjahren 1942 und 1943, unter Umständen, die denen von heute gleichen. Es braucht keine einzelnen Themata für die fünf Stücke, die wie im Zeitraffer einen beliebigen Tag im Leben der Menschheit aneinanderreihen, einer Menschheit, die es in der Hand hätte, aus der Schönheit des Sonnenaufgangs einen glücklichen Tag zu machen, aus ihren Liedern und Tänzen ein gerüttelt Maß an Frohsinn und Leichtigkeit zu schöpfen. Doch mit der gnadenlosen Akkuratesse eines Pathologen seziert die Komposition diese idyllische Oberfläche, um darunter Zorn, Misstrauen, Ärger und Trauer freizulegen, die wie dunkle Adern der Korpus durchziehen, die "Tragödie der Menschheit", wie es das Programmheft auf den Punkt bringt. Korsunenko wird im Verlauf seiner Interpretation zum Tonbildhauer, der seinem Material alle Gegensätze entlockt, um daraus eine neue Gestalt zu schaffen. Diese Plastik mag unseren Hör- und sonstigen Wahrnehmungsgewohnheiten widersprechen, doch sie ist von so gewaltiger Ehrlichkeit, dass sie die Unverzichtbarkeit des Prinzips Hoffnung belegt und jedes Einzelnen Mut fordert. Auch ohne Gegenwartsbezug sind diese fünf Präludien ein präziser Soundtrack zum großen Welttheater.

Sogar die Kinder haben ihre Unruhe abgelegt und in Staunen verwandelt

Im Kontrast dazu steht das letzte Stück des Abends, die Klaviersonate Cis-Dur von Wassyl Barwinsky, eine Klanglandschaft voller lyrischer Szenen und weiter Gedankenhorizonte, umringt von Tänzen, Liedern und Chansons. Geschaffen von einer großen Seele, die durch Intrigen, Verleumdung und Vernichtung durch Stalinisten um ihre Existenz gebracht werden sollte. Verbrannte Partituren, Straflager, zufälliger Wiederfund der Sonate: Einen ganzen Roman gäbe dieser Mensch her. Doch den braucht es nicht, wenn man sich die knappe halbe Stunde dieser Komposition verinnerlicht - und dazu sind sie alle bereit, die rund fünf Dutzend im Saal, gebannt folgen sie dem Spiel am Flügel, sogar die Kinder haben ihre Unruhe abgelegt und in Staunen verwandelt. Wie die Wolken am Himmel erzählt die Musik eine fesselnde und anrührende Geschichte, am Ende mündet sie aus dem Trubel einer technisch wie interpretatorisch meisterlichen Fuge ins erlösende Geläut von Friedensglocken.

Stürmischer Applaus, durchzogen von immer neuen Bravorufen, zwei Zugaben: Kyrill Korsunenko hat ein fabelhaftes Konzert gegeben - und Hoffnung.

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