Video-Schiedsrichter:Kann so viel Zufall Zufall sein?

Video-Schiedsrichter: Einige Entscheidungen der Schiedsrichterin Kateryna Monzul verärgerten die deutschen Spielerinnen im EM-Finale - aber keine so sehr wie jene, das Handspiel von Leah Williamson nicht zu überprüfen.

Einige Entscheidungen der Schiedsrichterin Kateryna Monzul verärgerten die deutschen Spielerinnen im EM-Finale - aber keine so sehr wie jene, das Handspiel von Leah Williamson nicht zu überprüfen.

(Foto: John Sibley/Reuters)

Bei der Fußball-EM der Frauen ging es im Video-Keller ähnlich schräg zu wie bei den Veranstaltungen der Männer. Und fast immer sind es mächtige Teams, die von Blackouts profitieren. Die Urteilsfindung gehört offengelegt.

Kommentar von Thomas Kistner

Auf der dunklen Seite hat der Fußball der Frauen jenen der Männer schon erreicht: Die Schiedsrichterei gewann bei der EM in England überragende Bedeutung, im Video-Keller (VAR) ging es ähnlich schräg zu wie bei all den Mysterien, die man aus den Milliardenbranchen von Bundesliga bis Champions League kennt. Zwei Dinge sind es, die Verwunderung in Misstrauen verwandeln.

Erstens, wenn sogar Vergehen ungeahndet bleiben, die völlig offenkundig sind - auch für die Video-Assistenten, die in ihrem Keller alle Bilder und fast alle Zeit der Welt haben, um saubere Urteile zu fällen. So sahen Millionen Fernsehzuschauer im Viertelfinale, wie Englands Stürmerin Russo die Spanierin Paredes von hinten mit Arm und Ellenbogen zu Boden drückte, um ihrer Kollegin Toone den Ball per Kopf zum 1:1 zu servieren. Und das fünf Minuten, bevor England beim Turnier im eigenen Land ausgeschieden wäre. Dass der Hebelangriff als regelkonform gewertet wurde, war jedenfalls gut fürs Geschäft.

Im Halbfinale gegen Schweden erzwang dann die Britin Bronze kurz nach der Pause die Vorentscheidung. Ihr Kopfball zum 2:0 wäre für Schwedens Keeperin erreichbar gewesen, nur war der leider die Sicht versperrt. Vor ihr stand eine Engländerin - aber nein, nicht im Abseits, meinten die VAR-Juroren. Die TV-Bilder zeigen, dass man das anders sehen konnte.

So glasklar wie gegen Spanien war die Schieflage dann auch wieder im Finale gegen Deutschland. Handspiel von Williamson kurz vor der englischen Torlinie - aber kein Elfmeter für die DFB-Frauen nach 25 Minuten. Das Spiel hätte ganz anders laufen können.

Es geht hier nicht ums Nachkarten, sondern um eine beunruhigende Erkenntnis, die nun immerhin die Branche alarmiert: Ein vertrauter menschlicher Makel, die Unvollkommenheit des Sehapparats, kursiert besonders stark unter Referees. Was in Verbindung mit dem zweiten Phänomen nicht länger akzeptabel ist, weil eine politische Dimension aufscheint: Fast immer sind es ja die Mächtigen, Wichtigen, die irgendwie attraktiveren Teams, die von Blackouts im Videokeller profitieren. Eine Irrtumsverteilung von 50:50 Prozent über Jahre wäre zu erwarten, wenn man jedoch den Eindruck gewinnt, dass sich das Phänomen bei fast schon 80:20 zugunsten der Attraktiveren einpegelt, drängt sich die Frage auf: Kann so viel Zufall Zufall sein?

Nein, die Fehler gleichen einander keineswegs aus

Nein, die Fehler gleichen einander keineswegs aus. Diese ewige Glückssträhne, die etwa dem Alleinherrscher der Bundesliga nebst aller unbestrittenen Klasse den Beinamen "Dusel" eingetragen hat, oder dieser penetrante Massel, der in der Champions League den Kickern von Real Madrid an den Stollen klebt - das Bild rundete die Frauen-EM ab: Ein Milliarden-Event, England stand wochenlang Kopf, das Finale zog 80 000 Fans ins Wembley-Stadion. Was ein Endspiel Spanien-Schweden bedeutet hätte, kann sich jeder auch ohne Marketingstudium ausrechnen.

Klar: Es muss nicht immer Schummelei sein. Was dahintersteckt, kann zumeist ohnehin spekuliert werden. Vorauseilender Gehorsam, Angst vorm Einfluss mächtiger Klubs und Verbände, private Neigung. Schlimm ist aber, wenn sich so ein Verdacht ergibt - und wichtig, dass alles dagegen getan wird. Dafür braucht es Transparenz, in England haben sie das jetzt erkannt. Die Premier League will künftig die Gespräche rund um einen Videobeweis zwischen den Referees im Feld und denen im Keller veröffentlichen. Ein Anfang soll auch gleich gemacht werden: mit den Audio-Mitschnitten von der Frauen-EM.

Das ist gut, es braucht Bewegung in dem Thema. Auch hierzulande, wo der Leiter des Video-Projekts, der ehemalige Schiedsrichter Jochen Drees, das VAR-Bild nun sogar auf die Stadionleinwand übertragen will. Das ist beim American Football längst Standard, mitsamt konkreter Urteilsverkündung im Stadion.

Das Wichtigste aber ist: Die Kommunikation zwischen Schiedsrichter und Video-Referee gehört offengelegt. Denn bisher ließen sich selbst eklatante Fehlentscheidungen im Gestrüpp dieser Kommunikation perfekt verstauen, inklusive der Frage: Gab es hier überhaupt einen Austausch? Wer genau was entschieden oder ignoriert hat, auf welcher Grundlage er das tat - das muss eindeutig nachzuverfolgen sein.

Schließlich wurde die teure Video-Gerichtsbarkeit ja eigens deshalb eingeführt, damit - im hochtechnologischen Spitzensport - nicht ausgerechnet die größte und wichtigste Branche ihr Regelwerk weiter auf Bolzplatzniveau umsetzt: Nur der Schiri hat es nicht gesehen. Statt kühler Klarheit aber hat das Chaos zwischen Pfeifenleuten und VAR-Assistenten immer weiter schräge Entscheide produziert - wobei im Ernstfall endgültig niemand mehr weiß, wer es war.

Das muss aufhören. Die Urteilsfindung gehört offengelegt. Dann kann sich keiner mehr im Keller verstecken.

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