Ballett-Festival:Haarfetisch, Tausendfüßler und quietschende Sneakers

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Der Mensch als Fluchttier: In Noé Souliers hochenergetischer Choreografie "Passages" erkunden die Tänzerinnen und Tänzer den Raum, hier eine Aufnahme von einer früheren Aufführung beim Festival "Indispensable" 2020 in Paris. (Foto: Patrick Berger)

Die Tanzwerkstatt Europa zeigt bis zur Halbzeit energetische und filigrane Körperstudien, die wenig Zusatzbrimborium brauchen, um zu wirken.

Von Sabine Leucht, München

Beeindruckend tanzen und zugleich maximal transparent sein: Zum Auftakt der Tanzwerkstatt Europa zeigt Noé Soulier, wie das geht. In seinem ortsspezifischen Stück "Passages" fluten fünf Tänzer und Tänzerinnen die Muffathalle, in der zwei raumlange Zuschauerreihen eine breite Gasse formen. Sie konfrontieren einander in wechselnden Konstellationen mit Blicken und Bewegungen - hoch und weit springend, kämpferisch aufstampfend, ängstlich um sich schauend. Der Mensch ist ein Fluchttier in dieser hochenergetischen Arbeit des 1987 in Paris geborenen Choreografen. Nur vom Quietschen ihrer Sneakers und dem eigenen Atem begleitet, erkunden seine Tänzer tastend das Terrain, ziehen die angewinkelten Arme herrisch an den Körper oder schauen versonnen ihren Händen nach, die gerade etwas freigelassen haben und dann erstarrt sind. Einmal heben sie alle einen Fuß auf der Schattenlinie an, die ihre nebeneinanderstehenden Körper werfen. Und das geht so zäh, als stünden sie im Moor. Vielleicht auch eine Replik auf den Lockdown, den nicht verstreichen wollenden Moment? Ihr Tanz jedenfalls - selten wird so klar, dass Tanz das tut - behauptet seine Umgebung mit, lässt selbst die Luft dicker oder dünner wirken; er formt den Raum, der somit kein Extra-Bühnenbild braucht und kein sonstiges Brimborium, um sich zu verwandeln. Und dann ist der Raum plötzlich weg, und es wird ein Film gezeigt - "Fragments" - in dem die Kamera auf einzelne Körperteile zoomt, und die zahlreichen Workshop-Teilnehmer im Publikum ästhetisch ansprechend demonstriert bekommen, wo Spannung und Energie entstehen und zentriert sind, wo mathematische Ordnung und organisches Laissez-faire herrschen darf.

Sechs Männer miteinander verklumpt wie in einer Schulhofrangelei

Männer, die sich mal mehr und mal weniger charmant zum Affen machen in Joe Morans Stück "Arrangements". (Foto: Camilla Greenwell)

Der seit je gewollte Workshop-Überhang dieses Sommerfestivals, das seit 1991 die internationale Tanzgemeinde in München versammelt, bekommt diesmal einen Baustein dazu. Vor Joe Morans "Arrangements" gab es die erste Physical Introduction, in der man allein und mit Partner Gesehenwerden einüben und simples Schrittmaterial verkomplizieren konnte. Dem Prinzip der "Verkomplizierung" verdankt die Arbeit des britisch-irischen Choreografen ein paar witzige, aber noch mehr vorhersehbare Szenen, in denen die sechs Männer miteinander verklumpt sind wie in einer Schulhofrangelei mit gedimmtem Aggressionslevel, über die ein Auflösungsverbot verhängt wurde. Daher müssen sie sich mit immer neuen Mikroverklumpungsvarianten über die Bühne morphen. Witzig wird's, wenn die sechs sich körperparallel aufeinanderlegen und auf Tausendfüßler machen. Insgesamt aber fehlt dem Abend die dramaturgische Stringenz, er zerfällt in Einzelübungen, in denen sich Männer - denn um Männerbilder geht es - mal mehr und mal weniger charmant zum Affen machen.

Das Haar als Übergang zwischen innerer und äußerer Welt: Aya Toraiwa in Isabelle Schads Choreografie "Fur". (Foto: Dieter Hartwig)

Die Beine jedoch, die hinten aus der Tausendfüßler-Formation herausragen, winken geradewegs hinüber zum Mittelstück des Triples, das tags zuvor im Schwere Reiter gezeigt wurde. Isabelle Schad, Meisterin des körperlichen Trompe-l'œil, hat das Solo "Rotations" ganz auf die Extremitäten von Claudia Tomasi zugeschnitten, die ihre Finger flirren, ihre Handgelenke rotieren und ihre Arme sich so lange in- und auseinanderfalten lässt, bis man sie als vom Restkörper losgelöste Werkzeuge sieht. Auch "Turning Solo 2" - ein faszinierendes Frage- und Antwortspiel zweier Tänzerinnen, die sich (Dreh-)Bewegungsaufgaben wie im Staffellauf übergeben und mit eigenen Variationen versehen weiterreichen - ist eine Herausforderung für das Auge. Aber nichts gegen das, was Aya Toraiwa in "Fur" mit ihrem knielangen Haar anstellt. Wie es sich hinter ihr auf dem Boden mitrollt oder wie ein Vorhang geteilt wird, aus dem alberne Finger wie Stielaugen und gefräßige Mäuler ragen, zum wohligen Nest oder Tau mutiert, an dem sie sich selbst in die Höhe zieht: Das evoziert Assoziationen zu Bondage-Praktiken und zum Objekttheater. Das Haar als Fetisch und eigenes Wesen: eine Zuschau-Lust!

So steht am Ende der ersten Festival-Hälfte einmal nicht das Gesellschaftspolitische, sondern die Lust am Körper und all seinen Gliedern im Zentrum. Das Kleine und nicht das Große - was man vielleicht doch auch gesellschaftlich deuten kann.

Tanzwerkstatt Europa, noch bis 12. 8., jointadventures.net/tanzwerkstatt-europa/performances

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