Ukrainisches Tagebuch (XLVII):Abscheu und Ekel

Ukrainisches Tagebuch (XLVII): Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Czernowitz im Westen der Ukraine.

Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Czernowitz im Westen der Ukraine.

(Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Was der Realist Leo Tolstoi Drastisches über Krieg und Zerstörung durch Russland schrieb, ist heute erschreckend gültig. Eine neue Folge des Ukrainischen Tagebuchs.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

"Als er nach dem Dorfe zurückkehrte, fand er seine Hütte zerstört, das Dach war eingestürzt, die Tür und die Säulen des Altans waren verbrannt und das Innere in widerlicher Weise beschmutzt. Sein Sohn, jener hübsche Knabe mit den blitzenden Augen [...] war [...] in den Rücken getötet [...] Der alte Großvater saß, an die Wand der eingestürzten Hütte gelehnt, da, schnitzte mechanisch an einem Stecken und starrte stumpf vor sich hin. Er war soeben erst aus seinem Bienengarten herübergekommen. Die beiden Heuschober, die sich dort befunden hatten, waren verbrannt, die Aprikosen- und Kirschbäume, die er selbst gepflanzt und gehegt hatte, waren zerbrochen und halb verkohlt, und auch die Bienenstöcke samt den Bienen waren ein Opfer der Flammen geworden.

In das Wehklagen der Weiber klang das Angstgeschrei der Kinder hinein, und das hungrige Vieh, für das es kein Futter gab, brüllte dazwischen. Die größeren Kinder dachten nicht ans Spiel, sondern schauten mit erschrockenen Augen auf die Erwachsenen [...] Kein Wort des Hasses gegen die Russen wurde laut. Das Gefühl, das alle [...] vom jüngsten bis zum ältesten, diesen Feinden gegenüber hegten, war stärker als der Haß. Sie sagten sich, daß diese russischen Hunde keine Menschen seien, und ein solcher Abscheu und Ekel, ein solches Erstaunen über die sinnlose Grausamkeit dieser Kreaturen ergriff sie, daß der Wunsch, sie auszutilgen, wie man Wölfe, Ratten und giftige Spinnen austilgt, ebenso natürlich erschien wie der Trieb der Selbsterhaltung.

Die Einwohner des Dorfes hatten nun die Wahl: entweder, in dieser Feindschaft verharrend, am alten Platze zu verbleiben und mit größter Mühe, auf die Gefahr einer Wiederholung dieses wahnwitzigen Zerstörungswerkes hin, die dem starren Felsen abgerungene Heimstätte wieder herzurichten - oder, dem religiösen Gefühl und der tiefen Abneigung gegen alles Russische zum Trotz sich durch Unterwerfung den Frieden zu erkaufen".

Die "Spezialoperation" soll auf Georgien und Kasachstan ausgeweitet werden

Dieses längere Zitat könnte aus einer der unzähligen Erzählungen der Menschen aus den ländlichen Gegenden in den Regionen Kyiv, Sumy, Tschernihiw, die im Februar 2022 durch Russen besetzt und Wochen später von den ukrainischen Streitkräften befreit wurden, stammen. Oder derjenigen, die es geschafft haben, aus den besetzten Gebieten im Süden oder Osten des Landes zu flüchten und darüber berichten, was sie erlebt haben.

Ich würde mich nicht wundern, wenn manch eine Leserin oder ein Leser sogar empört annehmen würden, diese Zeilen seien eine absichtlich beleidigende Diskreditierung der russischen Armee, "der zweiten Armee der Welt", die bekanntlich stets gegen das Böse vorgeht und stets das Gute schafft. Bloß gibt es uneinsichtige russenfeindliche "Neonazis" - von denen wimmelt es beispielsweise in der Ukraine - die ihr Glück nicht verstehen und mit Hilfe von heimtückischen US-Amerikanern, Briten, Polen - fast das komplette Abendland verschwor sich bekannterweise gegen Russland - versuchen den sinnlosen Widerstand zu leisten.

Die "militärische Spezialoperation" läuft jedoch genau nach dem Plan, daran erinnert regelmäßig der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu; der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates Dmitrij Medwedew informiert die Weltöffentlichkeit über die nächsten Phasen der "Spezialoperation", die in der absehbaren Zeit auf Georgien und Kasachstan ausgeweitet werden soll, damit die Grenzen der UdSSR so schnell wie möglich wiederhergestellt werden.

Tolstois Erzählung wurde erst posthum veröffentlicht

In Wirklichkeit beschreibt dieses Zitat nicht die Kriegswirklichkeit in der Ukraine 2022, sondern die in Tschetschenien Ende des 19. Jahrhunderts und ist der Erzählung "Chadschi Murat" von Leo Tolstoi (1828-1910) entnommen. Genau, dem weltberühmten russischen Klassiker. Es ist das letzte Werk von Tolstoi, der sich 1851 selbst der russischen Armee im Kaukasus anschloss und zweieinhalb Jahre dort verbrachte. Die Russen waren dort mehrere Jahre lang dabei kaukasische Völker zu "befreien", "Chadschi Murat" gründet auf historische Ereignisse dieses Krieges, wurde in den Jahren 1896-1906 geschrieben und erst posthum 1912 veröffentlicht. Die Übersetzung, aus der zitiert wurde, findet sich online unter "Gutenberg Projekt", leider ohne Angabe des Übersetzernamens. Ich glaube, der zitierte Text spricht für sich und bedarf keines weiteren Kommentars. Schließlich ist allgemein bekannt, dass Tolstoi ein Klassiker des literarischen Realismus und nicht etwa der Horrorliteratur war.

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