Festival:Botanische Achtsamkeitsübungen im Terrariumlicht

Festival: Wie Pflanzen, die im Zeitraffer wachsen, bewegen sich die Akteurinnen in Louise Vannestes Choreografie "Earths".

Wie Pflanzen, die im Zeitraffer wachsen, bewegen sich die Akteurinnen in Louise Vannestes Choreografie "Earths".

(Foto: Caroline Lessire)

Louise Vannestes Choreografie "Earths" bei der Tanzwerkstatt Europa.

Von Sabine Leucht, München

Die krause Brache, aus der vier Tänzerinnen wachsen, ist von der Zeit oder der Sonne bleich. Bällchen aus Moos und Flechten machen die quadratische Tanzfläche inmitten der Muffathalle zu einem Paradies für Füße. In Louise Vannestes "Earths", eingeladen zur Tanzwerkstatt Europa (TWE), kommen diese lange nicht vom Fleck. Paula Almiron, Amandine Laval, Léa Vinette, Castelie Yalombo tragen halblange Unterwäsche und den inwendig gekehrten Blick der Schlaftrunkenen, fühlen in ihren Stand hinein wie Yogis oder testen behutsam die fluffige Verschiebbarkeit der Botanik - was am Boden eine eigene kleine Schau kreiert. Über dem wie ein Terrarium beleuchteten Spiel-und-Fühl-Feld hängt ein lautes Knattern. So muss sich der Lärm unserer Welt für Gräser und Kleinstlebewesen anhören, die wir sonst achtlos zertreten.

Die umweltbewegte belgische Choreografin stellt genau sie ins Zentrum. Die sparsamen, anfangs wie eingerostet wirkenden Bewegungen der Tänzerinnen in ihrer 2021 uraufgeführten Arbeit verdanken sich dem Lauschen auf das, was am Boden kreucht und fleucht. Das aber zeitigt individuelle Blüten. Legt eine nur den Kopf schief, zuckt es in der nächsten schon wie in einem Vogel, der bald erstmals die Flügel spreizt. Die dritte hält ihre wimmelnden Finger in die Luft, als streichle sie zartes Weidenlaub, während Tänzerin Nummer vier ihren Körper dem erhobenen Arm-Fühler nachschlängeln lässt wie eine Pflanze, die im Zeitraffer wächst.

Die Atmosphäre ist vage unheimlich

Nicht alles davon passiert gleichzeitig, und das meiste ist mindestens eine Abstraktionsstufe von der platten Verkörperung entfernt. Ob das Bewegungsmaterial, wie Vanneste erklärt, einfach geschehen durfte, lässt sich natürlich schwer überprüfen. Die Atmosphäre ist durchaus besonders, hypersensitiv, kontemplativ, auch vage unheimlich. Aber sie ist schon auch Layer für Layer so gebaut. Die filigranen Moves sind da am interessantesten, wo sie zwischen Achtsamkeitsübung und Maschinenhaftigkeit irisieren. Bald aber kennt man sich aus, grübelt womöglich noch über die zunehmende Mobilität dieser hybriden Wesen und warum ausgerechnet eines der kraftvollsten plötzlich wieder am Boden liegt. Und sehnt sich mehr und mehr nach einem Störfeuer oder Fremdkörper im oder über dem Moos, nach irgendetwas, was dieser zunehmend beliebig wirkenden Kontaktaufnahme mit der Erde einen neuen Dreh verpasst

Weitere Vorstellungen: Frédérick Gravel "Fear and Greed", Do., 11. 8., 20.30 Uhr, Muffathalle, Eintritt 20 /12 Euro, www.jointadventures.net, und Final Lecture & Party, Fr., 12. 8., 20.30 Uhr, Muffathalle, Eintritt frei mit Zählkarte (Abendkasse)

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