Ausstellung zum Surrealismus:Wo der Hummer träumt

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Auch der Hummer hat seinen Auftritt: Salvador Dalís "Téléphon homard" (1938) ist aber vielleicht doch auch ein Kommunikationsmittel. (Foto: Oliver Cowling/Salvador Dali, Gala-Salvador Dali Foundation/DACS, London 2022/VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Dieser Sommer gehört dem Surrealismus, einer politisch hellwachen Kunstrichtung. In London ist die schönste Ausstellung zu sehen.

Von Catrin Lorch

Der Surrealismus hat in diesem Sommer Konjunktur: von kleinen Bühnen wie dem Sigmund Freud Museum in Wien bis zur gewaltigen Rampe der Kunst-Biennale in Venedig, wo nicht nur die gefeierte "Surrealism and Magic"-Ausstellung in der Peggy Guggenheim Foundation zu sehen ist, sondern auch in der Hauptausstellung, der eigentlich der zeitgenössischen Kunst vorbehaltenen Biennale, unter dem diesjährigen Titel "The Milk of Dreams" Künstlerinnen wie Dorothea Tanning, Eileen Agar und Leonora Carrington gefeiert werden. Letztere gab mit ihrem gleichnamigen Kinderbuch der Ausstellung den Namen.

Die inzwischen knapp ein Jahrhundert alte Kunstrichtung scheint hoch aktuell. Das liegt sicher auch daran, dass sich viele zeitgenössische Künstler von der Moderne abwenden, diesem auf Rationalität und Wissenschaftlichkeit gründenden Fortschrittsgedanken - aber auch daran, dass es viel zu entdecken gibt im Surrealismus, vor allem von Künstlerinnen. Von den Fotografien einer Claude Cahun bis zu den fast feinstofflichen, auf Natur, Weiblichkeit, organisches Wachstum setzenden Gemälden einer Leonor Fini.

Was gibt es zum Surrealismus noch zu sagen? Alles!

Die umfassendste Ausstellung ist die derzeit noch in der Tate Modern in London gastierende Schau "Surrealism Beyond Borders", die im vergangenen Winter im New Yorker Metropolitan Museum gezeigt wurde. Und die Tate Modern ist der ideale Ort, um dieser hoch aufmerksamen Aufarbeitung einen Rahmen zu geben. Denn sie ist Vorreiter eines im besten Sinne über die Grenzen einer Peripherie ausgreifenden Kunstverständnisses. Mit großer Selbstverständlichkeit gehören heute Werke aus Lateinamerika, Nordafrika oder Asien in die der Sammlung vorbehaltenen Säle.

Künstlerinnen wie Claude Cahun werden jetzt als Rückgrat einer Kunstgeschichte gefeiert, die nicht unbedingt auf die Moderne zielt: "Self-portrait (Reflected image in mirror, checked jacket)" (1928). (Foto: Courtesy of Jersey Heritage Collections/The estate of Claude Cahun)

Was also gibt es noch zu sagen, kunsthistorisch gesehen, zu einer so populären Kunstrichtung wie dem Surrealismus? Alles, muss man feststellen - denn jenseits der Blockbuster-Ausstellungen zu Salvador Dalí oder Rene Magritte und der auf deftige, überkonnotierte Motive setzenden Poster- und Coffee-Table-Book-Industrie gibt es eine Kunstrichtung zu entdecken, die aktueller kaum sein könnte. Obwohl die Kuratoren Stephanie D'Allesandro, Leonard A. Lauder und Matthew Gale die Anfang der Zwanzigerjahre in Paris entstandene Bewegung durchaus auch mit ikonischen Werken feiern und beispielsweise Salvador Dalis "Téléphone homard" (1938) als Ausgangspunkt nehmen.

Der "Geist der Revolte" ist noch nicht ganz aus-erforscht

Aber der rosa glänzende Krustentier-Hörer ist hier mehr als ein Objekt gewordener Albtraum. In der Tate scheint er auch Verbindungen anzudeuten, Kommunikation und gegenseitigen Austausch. "Surrealism Beyond Borders" sei ein erster Versuch, wie es programmatisch heißt, "nicht nur eine weite vielfache Verbundenheit" des Surrealismus neu abzustecken, sondern auch einen Gehalt, der nicht allein auf das Unbewusste zielt und die Psyche, sondern auch "einen Geist der Revolte" in sich trägt. Der auch als eine ganz konkrete Befragung politischer oder sozialer Systeme, Konventionen und Ideologien gedacht war und sich früh gegen Rassismus, Imperialismus, Faschismus, Kapitalismus und Militarismus wehrte. Als eine der Triebkräfte wird der Prozess der Dekolonisierung identifiziert. Oder um es mit Léopold Senghor, dem surrealistischen Dichter und ersten Präsidenten des Senegals zu sagen: "Wir akzeptierten den Surrealismus als Mittel, nicht als Ziel, als einen Verbündeten, nicht als einen Master."

Indem Stephanie D'Alessandro und Matthew Gale in ihrem einleitenden Essay genau auf Lebensläufe, Ausstellungen, Publikationen, Routen und Etappen fokussieren, gönnen die Kunsthistoriker nicht nur Paris als Schauplatz eine Pause, sondern ziehen auch all die leuchtenden, verspielten, mehr oder weniger naiven Reverien aus Leinwand und Farbe von ihrem Sockel. Denn - das ist ihre Erkenntnis - der Surrealismus war vor allem vernarrt in Papier, zu seinem Erbe gehören nicht auch, sondern vor allem: Landkarten, Magazine, Manifeste, dazu Briefe, Fotografien, Plakate, Ausweise, Skizzen, verkleckste Notizbücher, übermalte Buchseiten, Collagen und ein ganzes Kapitel den "Journalen".

Die feine, motivisch mäandernde Malerei von Leonora Carrington hat in diesem Sommer Konjunktur. Ihr "Self-portrait" (1937-38) wird in London gefeiert. Und die Biennale in Venedig verwendet den Titel ihres Kinderbuchs "The Milk of Dreams" für die Ausstellung. (Foto: Metropolitan Museum of Art/Pierre and Maria-Gaetana Matisse Collection/Artists Rights Society, NY/VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Der Ausstellung gelingt es, Gründerfiguren wie André Breton zu würdigen, gleichzeitig aber im Katalog den allzu bekannten Inklusions- und Ausgrenzungsmechanismen der Surrealisten kunsthistorisch nicht zu viel Raum zu geben. Stattdessen zitiert man im einleitenden Essay Takenaka Kyushichi, der schon 1930 lapidar feststellte, dass der echte Surrealismus sich nun wirklich nicht mit "Bretons Autorität" aufhalten könne und stellt an den Anfang der Betrachtung eine Landkarte. "Die Welt zur Zeit des Surrealismus" ist eine Seite aus der im Jahr 1929 in Brüssel erschienenen Varieties-Sonderausgabe zum Surrealismus: Ihr Mittelpunkt liegt im Pazifik, flankiert von einem überdimensionierten Alaska und einem aufgeblähten Russland. Das Bismarck-Archipel ist plötzlich das Zentrum der Welt, flankiert von Indien und Mexiko. Europa verschwindet genauso hinter dem Horizont wie die Vereinigten Staaten von Amerika.

China versprach die endgültige Abwendung von Vulgarität

Das wirkt wie eine Vorahnung: Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1939 verließ die Kunst Paris. Breton floh über die Antillen nach New York, Joan Miro ging zurück nach Spanien, Max Ernst wurde als Deutscher interniert, ganze Gruppierungen wie "La main à plume" gingen in den Untergrund und schlossen sich der Resistance an, André Breton und André Masson flohen nach Marseille, um nach Übersee zu entkommen. Und die Reisen der Künstler nach Martinique oder in Städte wie Buenos Aires, Havanna, Mexiko City, New York waren nur aus europäischer Perspektive ein Exodus - im Grunde begannen dort vor allem neue Kapitel des Surealismus.

Entdeckungen wie der "verlorene Surrealismus in China" machen den Katalog zu einem Standardwerk, zu einem Vademecum für eine Reise an Orte des Surrealismus, zu denen nun eben auch Guangzhou und Shanghai gehören. Dort veranstalteten die Gruppen Juelanshe und Zhonghua duli meishu siehui Serien von Aussstellungen und kündigten in einem radikalen Manifest im Jahr 1932 nicht nur eine neue Welt aus Farben, Linien und Formen an, sondern vor allem auch eine "Abwendung von aller Vulgarität".

Surrealism Beyond Borders ist bis zum 29. August in der Londoner Tate Modern Gallery zu sehen. Der Katalog kostet 35 Pfund.

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