Choreografin Oona Doherty:Raus aus der Depression 

Choreografin Oona Doherty: Oona Doherty bei den Proben zu ihrer Choreografie "Navy Blue". Das Stück geht nach der Uraufführung in Hamburg auf Tournee.

Oona Doherty bei den Proben zu ihrer Choreografie "Navy Blue". Das Stück geht nach der Uraufführung in Hamburg auf Tournee.

(Foto: Sinje Hasheider)

Die Belfaster Choreografin Oona Doherty ist der neue Shootingstar der Tanzszene. Mit ihrem Stück "Navy Blue" hat sie das Hamburger Sommerfestival auf Kampnagel eröffnet - es ist für sie auch ein Befreiungsschlag.

Von Dorion Weickmann

Auf der halbdunklen Bühne von K6, der größten Halle des Hamburger Kampnagel-Areals, stehen ein Dutzend Gestalten in blauer Arbeitskluft - passend zum Stücktitel: "Navy Blue". Aus dem Off steigen die ersten Takte von Rachmaninows zweitem Klavierkonzert auf, während Bewegung in die Menschen kommt. In Serpentinen, Ellipsen und Linien bahnen sie sich ihren Weg nach vorn. Schreckgeweitete Augen, angstverzerrte Mienen begleiten eine gehetzte Motorik, in die sich Ballettelemente mischen - tastend ausgeführt, fast improvisiert. Eine diffuse Bedrohung liegt in der Luft, gegen die nichts auszurichten ist, nicht mit geballten Fäusten, nicht durch ineinander verhakte Glieder. "Navy Blue" ist ein düsteres Stück, eine Uraufführung der Belfaster Choreografin und Tänzerin Oona Doherty, die damit soeben das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel eröffnet hat. Spätestens seit die Nordirin im vergangenen Jahr auf der Tanz-Biennale in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet wurde, ist sie ein Shootingstar der Tanzszene.

Choreografin Oona Doherty: "Navy Blue" ist eine nachtblau-düstere Choreografie zur Musik von Rachmaninows 2. Klavierkonzert.

"Navy Blue" ist eine nachtblau-düstere Choreografie zur Musik von Rachmaninows 2. Klavierkonzert.

(Foto: Sinje Hasheider)

"Navy Blue" ist ihre erste Arbeit für ein vielköpfiges Ensemble. Mitten im Schmelz von Rachmaninows Adagio-Satz vollzieht sich perfide ein Umschlag. Schüsse peitschen durch die Musik, fällen einen nach dem anderen. Vergeblich knäulen sich die Opfer zusammen, schnüren ein Schutzbündel aus ihren Körpern. Wo ein Toter zurückbleibt, sickert eine Lache aus bläulichem Licht auf den Boden. Ein stilles Intermezzo, dann weiten sich die Projektionen, fließen die Flecken ineinander und bilden einen blauschimmernden Ozean, der über den Leibern zusammenschlägt. Bis noch einmal Leben in sie kommt und eine Frauenstimme die Zerstörung des Planeten, politischen Totalitarismus und die Vergeblichkeit aller Kunst geißelt. Ein Solo noch, eine tröstende Umarmung. Dann versinkt "Navy Blue" in der Finsternis und schreibt sich ein ins Gedächtnis: als Requiem auf Mutter Erde und ihre menschlichen Mörder.

Die Dramaturgin riet ihr: "Arbeite dich an deinem blauen Anzug ab"

Das Stück ist noch bis Samstag auf Kampnagel zu sehen und geht dann auf Tournee, am 18. und 19. August gastiert es beim Berliner Festival Tanz im August. "Navy Blue" - da steckt der Blues schon im Titel. Ooana Doherty hat in dem Stück auch die eigene Depression verarbeitet, dieses Tief, in das sie 2019 gerutscht war. "Eigentlich wollte ich ein Stück über Rassismus machen", erzählt die Choreografin bei einem Treffen in der Woche vor der Premiere im glutheißen Hof von Kampnagel. Aber ihre Dramaturgin habe davon abgeraten: "Das ist überhaupt nicht dein Thema!" Stattdessen empfahl sie: "Ich soll mich an dem blauen Anzug abarbeiten, den ich mir vor Jahren gekauft habe." Ein Ratschlag, den Doherty beherzigt hat. Nicht von ungefähr tragen ihre zwölf Tänzer marineblaue Outfits.

Choreografin Oona Doherty: Hat mit ihrem Stück "Navy Blue" sich selbst aus der Krise befreit: die nordirische Choreografin Oona Doherty, Jahrgang 1986.

Hat mit ihrem Stück "Navy Blue" sich selbst aus der Krise befreit: die nordirische Choreografin Oona Doherty, Jahrgang 1986.

(Foto: Luca Truffarelli /Kampnagel Hamburg)

Mit sechsunddreißig Jahren hat Oona Doherty ein knappes Dutzend Arbeiten vorzuweisen, keine gleicht der anderen. 1986 in London geboren, zog sie als Zehnjährige nach Belfast. Für die Tanzausbildung ging sie zurück in die britische Hauptstadt, tourte ab 2010 mit verschiedenen zeitgenössischen Kompanien in England und auf dem Kontinent. Parallel choreografierte sie Soloauftritte, traute sich bald kleinere Ensemblestücke zu und landete schließlich 2017 einen Volltreffer: "Hard to be Soft - A Belfast Prayer" lieferte eine dichte Beschreibung des nordirischen Alltags, ein Porträt der Arbeiterklasse, ihrer Träume und Albträume. Dohertys geradlinige Erzählweise, ihre kraftvolle, zwischen rabiater Zudringlichkeit und verhaltener Zärtlichkeit mäandernde Körpersprache beeindruckte Publikum und Kritik in ganz Europa. Ähnlich zupackend geriet wenig später auch "Hope Hunt and the Ascension into Lazarus", wohingegen das 2019 entwickelte Frauensextett "Lady Magma: The Birth of a Cult" eine schwül-sinnliche Reverenz an die Soultrain-Ära der 1970er Jahre war.

Seit sie Mutter ist, muss sie auch über andere Dinge nachdenken als über ihre Kunst

Biografisch gedeutet, lässt sich "Lady Magma" als eine Art Prequel der Mutterschaft begreifen. 2021 brachte Doherty eine Tochter zur Welt und muss seitdem auch über andere Dinge als ihre Kunst nachdenken: "Wie kriegt man eine Familie durch, wo kommt Betreuung her und wo genug Schlaf?" Der Brexit hat die Lage aussichtslos gemacht: "In Nordirland lässt sich keine freie Tanzkompanie stemmen, es gibt kein Geld dafür." Deshalb überlegt Doherty, von der Insel aufs Festland zu übersiedeln, möglichst nach Frankreich, um sich dort um die Leitung eines der knapp zwanzig gut alimentierten Choreografie-Zentren zu bewerben. Erfahrung mit großen Häusern hat sie bereits gesammelt, so etwa 2021 beim Ballet de Marseille. Ihre Bilanz fällt eindeutig aus: "In den Institutionen geht es immer noch straff hierarchisch zu - egal, ob Ballett oder zeitgenössische Szene." Ein solches Regiment ist nicht ihre Art, und schon gar nicht ihr Ziel. Die schmale Frau mit den graublauen Augen ist keine Ansagerin. Bei Proben fragt sie die Tänzer: "Passt das so, ist das okay für dich?" Sie kann zuhören, alternatives Bewegungsmaterial organisieren. Die künstlerische Vision ist das eine, die Zusammenarbeit das andere - und genauso wichtig.

Oona Doherty sucht nach Gleichgesinnten, nach kritischen Köpfen. Die Corona-Jahre haben ihr zugesetzt und sie zugleich vorangebracht: "Ich war dauergestresst, die depressive Verstimmung kam nicht von ungfährt. Die Zurückgeworfenheit auf mich selbst und meine Arbeit im Lockdown war hilfreich." Wenn "Navy Blue" jetzt auf Tour geht, dann erst mal ohne Doherty. Sie kehrt zurück nach Irland, Stabilität für das Kind ist ihr wichtig. Vielleicht muss sie Leute suchen, die ihre Stücke künftig andernorts einstudieren. "Natürlich bist du mit einem Baby nicht mehr so beweglich. Du musst entscheiden, was wichtig ist, was nicht." Diese Lektion hat sie schon in der Pandemie gelernt. "Navy Blue" ist aber nicht nur ihr persönliches Fazit der Krise, sondern auch ein überwältigendes Theatererlebnis.

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