European Championships:Von der Prachtkulisse ins schwarze Loch

European Championships: 142 Fahrer aus 33 Ländern auf einer Bilderbuchstrecke quer durchs Voralpenland.

142 Fahrer aus 33 Ländern auf einer Bilderbuchstrecke quer durchs Voralpenland.

(Foto: Soeren Stache/dpa)

Wiesn, Seen, Apfelbäume: Nach einer Bilderbuch-Radltour durchs Voralpenland bleibt den deutschen Profis ein EM-Erfolg im Straßenrennen verwehrt: Pascal Ackermann touchiert ein Absperrgitter und stürzt.

Von Barbara Klimke

Bei der Asphaltjagd kommt es auf den Fokus an: "Zwölf Kilometer, dann ein Anstieg mit 350 Höhenmetern", so sah das Jens Zemke, Sportlicher Leiter der deutschen Radfahrer. Das war gewissermaßen das Schwarzweißbild dieses Streckenabschnitts, der Blick auf nackte Zahlen. Das Publikum sah: den schimmernden Kochelsee im Tal; den steilen, sich zum Kesselberg schlängelnden Bergstraßen-Lindwurm; dann oben, Richtung Süden, das sich weitende Panorama über den Walchensee hinweg bis hin zum Karwendel. Türkis. Silber. Grün. Himmelblau. Bayerns knalligste Farbskala. Lovis Corinth hatte sich hier einst angesiedelt, um das Spektrum in Öl zu tupfen.

Den Kurs dieser Straßenrad-Europameisterschaft hätten alle Tourismusämter der Gemeinen des Oberlands gemeinsam nicht schöner festlegen können: 142 Fahrer aus 33 Ländern auf einer Bilderbuchstrecke quer durchs Voralpenland von Murnau nach München, Aussichtsgipfel zur einen Seite, Wiesen und Felder zur anderen. Dazu bayerisches Prachtwetter. Dem Peloton kam über 207 Kilometer Strecke die Aufgabe zu, das beschauliche Umland mit den wummernden Bässen im Zentrum der Veranstaltung, im Ziel am Odeonsplatz, zu verbinden.

European Championships: "Ois was Gaudi macht mitbingen!": Das Peloton beim Start in Murnau am Staffelsee.

"Ois was Gaudi macht mitbingen!": Das Peloton beim Start in Murnau am Staffelsee.

(Foto: Benoit Doppagne/Belga/Imago)

Wobei die Geräuschkulisse schon am Start in Murnau am Staffelsee beträchtlich war. "Ois was Gaudi macht mitbringen!", hatte die Gemeinde vorsorglich auf ihre Flyer mit dem Motto "Das Blaue Land radlt" gedruckt. Ein Vorrat an Klatschklappen, hieß es, sei vorsorglich angelegt. Am Obermarkt, in der Fußgängerzone vor dem Café Krönner, wo am Vortag die Gäste noch bei Weißbier und Apfelstrudel im Schatten gesessen hatten, waren die Sonnenschirme und Tische weggeräumt. Denn dort drängte sich am Morgen um 10.15 Uhr das versammelte Starterfeld. Dann ging es los, am Kurpark vorbei, ehe der Pulk außerhalb der Stadt Tempo Richtung Schlehdorf, Kochel, Walchensee aufnahm.

Zwei Ausreißer radeln bis München voran

Das achtköpfige deutsche Team führten die Sprinter Pascal Ackermann und Phil Bauhaus als Doppelspitze an, beide 28 Jahre alt, beide zuletzt Etappensieger auf der Polenrundfahrt. Die Experten des Verbands BDR um Jens Zemke vertrauten darauf, dass sich die Entscheidung nicht vor der Bergkulisse, sondern erst im Flachen, auf den fünf abschließenden Runden des Stadtkurses in München entscheiden würde. Es war, wie sich herausstellte, grundsätzlich ein aussichtsreicher Plan, bis zu einem Malheur 45 Kilometer vor dem Ziel, als Ackermann im Gedränge strauchelte und stürzte.

Doch zunächst stand der Kesselberg an, der erwähnte Anstieg nach zwölf Kilometern mit 350 Höhenmetern. Hier setzte sich ein Duo ab, das lange Zeit den Takt bestimmte: Der Österreicher Lukas Pöstlberger und der Schweizer Silvan Dillier stiegen mächtig in die Pedale. Als der Walchensee umrundet war, hatten sie fast drei Minuten Vorsprung zwischen sich und die Nachfolger gelegt. Das Peloton verzichtete darauf, die Ausreißer in der Sommerhitze einzufangen, achtete aber darauf, dass es den Abstand geringfügig verringerte. Und so rollten sie durch die Landschaft, aus dem Schatten des Herzogstands nach Jachenau, durch das lange Tal nach Lenggries und Bad Tölz, an Bauernhäusern mit Blumenbalkonen vorbei, an Apfelbäumen, Maibäumen, barockbeschwingten Zwiebeltürmen, Brauwirtschaften und Weidevieh: vornweg Pöstlberger/Dillier, der Rest des Feldes kontrolliert hinterher, bejubelt von den Zuschauern an den Straßen.

Das deutsche Team hatte sich mit Nils Politt, John Degenkolb und Roger Kluge, die Sprinter schützend, zwischenzeitlich an der Spitze der Verfolger positioniert. Aber das Duo Pöstelberger/Dillier führte auch noch, als mittags kurz vor ein Uhr bei der zweiten Steigung Richtung Eurasburg gekraxelt wurde. Die beiden waren die ersten in Percha am Starnberger See. Und sie waren die ersten, die die Stadtgrenze des Zielorts erreichten, ein den Münchner Freizeitfahrern vertrautes, den Profis aber relativ unbekanntes Terrain, wie Zemke vor dem Rennen erläuterte: "München war immer ein schwarzes Loch."

Bei Olympia 1972 kamen die Radler über Grünwald nicht hinaus

Zemke ist lange im Geschäft, aber ein bedeutendes, internationales Rennen in München, sagte er, habe er nie erlebt, weder bei der Bayernrundfahrt noch bei der Deutschlandtour: "Dort fehlen die Erfahrungswerte." Interessanterweise war nicht einmal bei den Olympischen Spielen 1972, die in historischer Sicht den Bezugspunkt für die European Championships bilden, ein Stadtkurs vorgesehen. Damals bestand das olympische Straßenrennen aus einem vergleichsweise eintönigen Rundkurs auf einer 22,8-Kilometer-Schleife mit Start und Ziel im Villenvorort Grünwald.

Am Sonntag nun radelten die Elitefahrer an Münchens schönsten Ecken vorbei, als habe, was die Werbung für den Radsport betrifft, auch hier das Stadtmarketing übernommen. Auf den letzten fünfeinhalb Runden nahmen die Kameras für das internationale Fernsehpublikum die Theresienwiese mit den bereits aufgebauten Oktoberfestzelten, den Stachus, den Friedensengel und das Siegestor ins Visier. Dreimal die Ludwigsstraße entlang, dann hatte das geduldige Peloton 27 Kilometer vor der Zielankunft endlich auch die beiden Ausreißer geschluckt.

Den Traum der deutschen Sprinter auf einen prachtvollen Sieg auf der Prachtstraße hatte kurz zuvor der Sturz des hoch motivierten Pascal Ackermann beendet. Er touchierte auf dem Stadtkurs ein Absperrgitter, verlor den Halt und zog sich eine Platzwunde an der Hand zu. "Dreißig Leute vor ihm, da konnte er das Gitter gar nicht sehen", erklärte der Kollege Phil Bauhaus, dem zum Schluss die Kraft ausging, so dass er im Zielspurt als bester Deutscher Sechszehnter wurde. Als Schnellster nach gut viereinhalb Stunden war der Niederländer Fabio Jakobsen am Odeonsplatz angekommen, vor Arnaud Demare aus Frankreich und dem Belgier Tim Merlier.

Die Bilanz falle frustrierend aus, sagte Zemke: "Nach dem Sturz konnten wir nur zu Plan B greifen. Und der hat nicht funktioniert." Roger Kluge, 36, hingegen stand abgekämpft, aber auch mit einem Lächeln im Ziel. Er habe es genossen, sagte er über viereinhalbstündige bayerische Bilderbuch-Radltour. "Ich wäre sogar die letzten fünf Runde nochmal gefahren", sagte er. Naja, fügte er nach kurzem Nachdenken an: "Vielleicht kleinere Runden."

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