Ukrainisches Tagebuch (XLVII):"Die will doch keiner"

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Oxana Matiychuk arbeitet an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Behinderte Menschen aus den Kriegsgebieten zu evakuieren, ist ein schwieriges Unterfangen. In der Ukraine gibt es kein Pflegesystem und kaum professionelle Hilfe.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Als meine in Deutschland in der Pflege arbeitende Freundin und ehemalige Kollegin wieder fragt, ob ich für ihren Bruder, der als Sanitäter im Militärspital in Bachmut arbeitet, ein paar Sachen und Medikamente besorgen würde, sage ich selbstverständlich Ja. Frage ihn dann auch noch direkt. R. schreibt zurück: L-Lysin, wenn möglich, und isotonische Kochsalzlösung. L-Lysin ist nicht rezeptpflichtig, allerdings nicht in jeder Apotheke zu bekommen. Es ist relativ teuer. Insgesamt sind es zwei Dutzend Packungen, die mein Kollege O. und ich besorgen können. I. schreibt mir, sie habe den Kontakt zu einem Freiwilligen bekommen, der regelmäßig in den Osten fährt, auch in die Gegend, wo ihr Bruder ist. Ich soll ihn fragen, ob er die Sachen mitnehmen würde. Die Nummer und der Name, die sie mir schickt, sind mir bekannt. Eigentlich kennen wir uns sogar seit der Studienzeit und sind Universitätskollegen.

Im Leben vor dem Krieg war I. Dozent für Französisch am Fremdsprachenlehrstuhl, der an der historischen Fakultät angesiedelt ist, er promovierte in französischer Literaturgeschichte. Ansonsten hat I. einen guten Geschäftssinn: Er gründete die erste Reinigungsfirma in der Stadt, deren Dienste ich ab und an auch nutzte. Und er hat ausgezeichnete soziale Kompetenzen sowie ausgeprägte Empathie. Ich habe auch schon früher gehört, was I. jetzt macht, das passt gut zu ihm: Er und seine Freunde evakuieren Menschen mit Behinderung. Kein leichtes Unterfangen, "die will doch keiner", sagt I. in einem Interview, das ich vor einigen Wochen gelesen habe. In der Ukraine gibt es kein Pflegesystem, Menschen mit Behinderung sind mehrfach benachteiligt. Kaum professionelle Hilfe, eine Herausforderung für Familienangehörige. Barrierefreiheit - ein Begriff, der sich erst in den vergangenen Jahren langsam zu etablieren begann.

Für den Transport wurden Busse umgebaut. Aber wo die Behinderten unterbringen?

Behinderte Menschen aus den bombardierten und beschossenen Häusern, Wohnungen und Kellern zu retten, ist eine Aufgabe nicht für jedermann. I. und Gleichgesinnte gründeten einen Wohlfahrtsverein, Freedom Trust heißt er. Sie sind als Team über das Land verteilt, übernehmen Koordination, Kommunikation, Logistik. Ein paar Busse wurden umgebaut, sodass Tragen darin transportiert werden können. Wenn I. und seine Kollegen von Tscherniwzi losfahren, müssen sie konkret wissen, wo sie die Menschen abholen und wohin sie sie bringen sollen. Dnipro, Saporischschja, Lwiw sind die häufigsten Ziele. Aber auch nach Tscherniwzi brachten sie schon mehrere Dutzend Menschen. Als wir uns treffen, sagt I., sie versuchen zurzeit, alte leer stehende sowjetische "Sanatorien", von denen es in der Region einige gibt, für die Bedürfnisse der Behinderten zu bekommen. Wenigstens ein Gebäude. Es gebe wohl Fördermöglichkeiten, diese zu sanieren. Das Kolpingwerk sei dabei. Die Verhandlungen mit den Beamten gestalten sich jedoch schwierig.

Leider ist das nichts Neues, anderenorts gibt es regionale und kommunale Verwaltungen, die schon viel innovativer und kooperativer sind. Wir sprechen darüber und über einige andere Dinge nebenbei, während ein Bus mit Hilfsgütern aus unserem Lager beladen wird. I. sagt, Richtung Osten transportieren sie alles, was zivile Bevölkerung und Soldaten in Militärspitälern brauchen. Wir haben Konserven, Nudeln, Waschmittel und Kekse abzugeben, darüber hinaus Arztkittel, Desinfektionsmittel und Pflaster in verschiedenen Ausführungen, die wir von der italienischen Hilfsorganisation "Rainbow for Africa" bekommen haben. Zugestellt wurde der Hilfstransport nach dem rumänischen Siret durch unsere Partneruniversität in Turin. Ich habe noch eine Geldspende von meiner Mutter. Sie zählt zu den Glücklichen, die nach wie vor ein wenig von ihrem Geld abgeben können. I. meint, davon sollen wir Tee und Kaffee für die Soldaten kaufen, danach werde immer gefragt. Also fahren wir noch zu einem Tee- und Kaffeeladen in der Nähe.

Tee und Kaffee für "unsere Jungs"

Auf I.s Satz "Wir brauchen Tee und Kaffee für unsere Jungs" folgt eine ausführliche Erklärung, was preiswert und gut ist, ich vermute, es ist die Geschäftsführerin oder Ladenbesitzerin selbst, die neben der Verkäuferin im Laden steht. Bestimmte Teesorten werden knapp, sagt sie, gerade die preiswertesten, die jetzt wesentlich häufiger gekauft werden, auch für die Soldaten. 41 Tage seien die Container von Sri Lanka nach Odessa unterwegs, doch jetzt seien die Lieferketten unterbrochen. Das macht aber nichts, es finden sich schon andere Wege, Hauptsache, "unsere Jungs" halten durch. Wir bekommen die Sachen in einen Karton gepackt und 15 Prozent Rabatt sowie die Telefonnummer und den Namen von der Geschäftsführerin, die uns sagt, wir können uns direkt melden und vorbestellen, wenn wir wieder Sachen brauchen. Und dann stecke ich I. noch einen Betrag für den Diesel zu - vom Treibstoff braucht man mehrere Hundert Liter für eine Fahrt. Der wird komplett aus Spenden finanziert.

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