Die Literatur-Kolumne:Was lesen Sie?

Die Literatur-Kolumne: Kann es ein Buch geben, in dem alle gut drauf sind, nett und gesund, aber trotzdem nicht langweilig? Der Schriftsteller Heinz Helle sucht danach.

Kann es ein Buch geben, in dem alle gut drauf sind, nett und gesund, aber trotzdem nicht langweilig? Der Schriftsteller Heinz Helle sucht danach.

(Foto: Robert Fishman/imago/ecomedia)

In unserer Interviewkolumne fragen wir Schriftsteller und Schriftstellerinnen nach ihrer aktuellen Lektüre. In dieser Folge: Heinz Helle.

Von Miryam Schellbach

Der Schriftsteller Heinz Helle, 1978 in München geboren, hat zwei Kinder, was in diesem Zusammenhang durchaus eine Rolle spielen könnte. In seinem in Kürze erscheinenden vierten Roman "Wellen" setzt er sich literarisch mit Männlichkeit und Vaterschaft auseinander.

SZ: Was lesen Sie gerade?

Heinz Helle: Tagsüber lese ich "Zusammenkunft" von Natasha Brown, über eine Britin mit jamaikanischen Wurzeln, die in der Londoner Finanzindustrie arbeitet. Es ist ein schönes, schmerzhaftes Buch. Schön sind die fragmentarische Form und die klare Sprache. Schmerzhaft sind die Erlebnisse der Erzählerin. Ich glaube, ich lerne viel durch dieses Buch. Abends lese ich "Die Dämonen" von Dostojewski, zum dritten Mal. Und ich staune, wie aktuell dieser Roman bleibt. Es gibt darin Mörder und Unruhestifter, die rätselhafte Buchstaben verbreiten ("X" und "Z"); es gibt Sozialromantiker, die an ihrer Toleranz (vor allem sich selbst gegenüber) zu Grunde gehen; und es gibt Radikale ohne Überzeugungen oder Programm, die sich über ganze Kontinente vernetzen mit dem Ziel, Unzufriedenheit zu verbreiten und vor allem Unglauben.

Wenn Sie sich die Existenz eines Buches wünschen dürften, das es noch nicht gibt - was wäre das?

Ich würde mir ein Buch wünschen, in dem alle immer gut drauf sind, satt, gesund und in Sicherheit, und das trotzdem nicht total langweilig ist. Aber weil so ein Buch in unserer Welt kaum möglich ist, bezieht sich dieser Wunsch wahrscheinlich eigentlich auf die Realität.

Welche Figur aus einem Roman oder überhaupt einem Buch fällt Ihnen immer wieder ein?

Aljoscha Karamasow und wie er das Theodiezeeproblem löst: mit einem Kuss.

Ein Buch, das Ihnen wichtig ist, von dem die meisten anderen aber noch nie gehört haben?

"End Zone" von Don DeLillo. Es verbindet Sprachphilosophie, American Football und nukleare Abschreckung in der Einsamkeit eines texanischen College. Ein Höhepunkt des Romans ist die Szene, in der ein spontanes Footballspiel auf dem über Weihnachten fast verlassenen Campus beschrieben wird: ohne Sportkleidung, ohne Zuschauer, ohne Schiedsrichter, dafür mit immer härteren, nach jedem Spielzug geänderten Regeln im immer dichter fallenden Schnee. Am Tag danach wird der Erzähler krank und bekommt hohes Fieber.

Welche Autorinnen, Romanautoren, Dramatiker, Regisseurinnen, Kritiker, Wissenschaftlerinnen, Dichter bewundern Sie im Augenblick?

Die Regisseurin Nele Jahnke, die seit vielen Jahren Künstlerinnen und Künstler mit Beeinträchtigung sichtbar macht, zuletzt auch auf der Bühne der Münchner Kammerspiele. Und die Autorinnen und Autoren Dorothee Elmiger, Matthias Nawrat, Maggie Nelson, Jakob Nolte, Julia Weber und Levin Westermann, von denen ich jeden neu Tag lerne, wie das vielleicht gehen könnte, mit dem Schreiben oder dem Leben. Oder beidem.

Wie viele Romane braucht die Menschheit noch?

Sehr viele. Ich glaube, dass Romane oder längere Erzählungen eine wichtige Rolle spielen für unser Verständnis der Gegenwart und unserer eigenen Position in der Welt. Insofern wünsche ich mir mindestens so lange immer wieder neue Romane, wie es die Menschheit gibt. Was, wie ich glaube, noch sehr, sehr lang sein wird.

Was ist für Sie das Wellenförmige am Vatersein?

Wie sich Wut, Liebe, Zweifel oder Dankbarkeit immer wieder langsam in mir aufbauen, mich überrollen, und sich dann zurückziehen. Wie ich nach jeder dieser Wellen denke, ich hätte etwas gelernt und würde das nächste Mal die Kontrolle behalten. Und wie dann alles wieder von vorne losgeht.

Die Autorin Rachel Cusk schreibt über Mutterschaft: "Es ist, als hätte ich etwas extrem Teures gekauft, das ich mir im Laden noch heftig gewünscht habe, und dem ich nun, hier in meinem Wohnzimmer, mit welkendem Mut gegenüberstehe." Ihre Assoziation?

Das Gefühl des welkenden Mutes kommt mir bekannt vor. Vor allem gegenüber meinem Selbst- und Menschenbild, gegenüber tiefen, unausgesprochenen Glaubensgrundsätzen, die in bestimmten Situationen plötzlich gar nicht mehr so absolut erscheinen.

Weitere Folgen der Interview-Kolumne lesen Sie hier.

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