Tag der offenen Tür im Regierungsviertel:Applaus, Applaus

Tag der offenen Tür im Regierungsviertel: Wer eine Frage für den Kanzler hat, meldet sich wie in der Schule. Richtig unangenehm wird es für Olaf Scholz da eigentlich nie.

Wer eine Frage für den Kanzler hat, meldet sich wie in der Schule. Richtig unangenehm wird es für Olaf Scholz da eigentlich nie.

(Foto: Jens Schlüter/AFP)

Beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung dürfen Kanzler Scholz und Wirtschaftsminister Habeck menscheln - vom "heißen Herbst" und "Wutwinter" gibt es noch keine Spur.

Von Chris Cameron und Johannes Korsche, Berlin

Und dann spielt die Straßenmusikantin, die sich mit ihrem E-Piano auf dem Friedrich-Ebert-Platz hinter dem Reichstag positioniert hat, auch noch den Elton-John-Schmuse-Klassiker "Can You Feel the Love Tonight". Mitten am Sonntagnachmittag, bei angenehmen Sommertemperaturen, die die kalten Monate, die wahlweise als "heißer Herbst" oder "Wutwinter" des Protestes gegen die Bundesregierung angekündigt sind, weit weg erscheinen lassen. Vielleicht lädt die Bundesregierung deswegen auch zu ihrem Tag der offenen Tür noch schnell im Sommer ein, solange die Stimmung noch besser ist. Von Wut ist jedenfalls nichts zu spüren, als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Nachmittag die Bühne im Kanzlergarten betritt.

Ein paar Hundert Bürgerinnen und Bürger sind gekommen, sie stehen dicht gedrängt vor der Bühne zwischen Bäumen und Sonnenschirmen. Manche melden sich, sie wollen den Kanzler was fragen. "Sind Sie reich?", will ein Kind wissen. "Ja", sagt Scholz. Nächste Frage. Auch die nächsten Fragen, die Scholz am Sonntag auf der Bühne beantworten muss, dürften ihm lieber gewesen sein als die im Hamburger Untersuchungsausschuss zum Cum-Ex-Skandal vor ein paar Tagen. Vielleicht auch, weil diesmal keine Frage kommt, bei der Scholz auf Erinnerungslücken verweisen muss. Warburg-Bank, nicht zurückgeforderte Steuermittel - das ist den Besuchern keine Frage wert.

Dafür darf Scholz ein bisschen menscheln, und nun weiß man, dass er "inspirierter" Karl-May-Leser war, überhaupt schon immer gerne gelesen hat und in der Schule am liebsten das Fach Geschichte mochte. So hat man das Gefühl, dass sich Scholz mit der Zeit immer wohler fühlt und minimal weiter zum Bühnenrand geht, bis der halbe Kanzlerschuh über die Treppenstufen der Bühne hinaussteht. Es wirkt fast so, als wolle er den Bürgern besonders nah sein - so weit das von einer Bühne aus eben geht.

Natürlich kommen dann auch Fragen zur aktuellen Politik. Zum Angriffskrieg gegen die Ukraine zum Beispiel. Ob man den als Europa nicht hätte verhindern können? Scholz antwortet, wie er das immer tut: Nein, es gebe schließlich keinen wirklichen Kriegsgrund, außer dass Putin im Geschichtsbuch gelesen habe, dass die Ukraine kein eigener Staat sei. Zivilisierte Staaten machten so etwas nicht. Applaus. Längst nicht das einzige Mal, dass Scholz freundliche Bestätigung für eine seiner Antworten bekommt. Wie man in der Ukraine wieder zu einem Frieden findet? "Kein Diktatfrieden, so wie Putin sich das vorstellt." Applaus. Mehr Waffenlieferungen an die Ukraine? "Nur im Einklang mit unseren Partnern, insbesondere den USA." Applaus. Neun-Euro-Ticket? "Eine der besten Ideen, die wir hatten." Applaus. Wutwinter? Weit weg.

Keine Pfiffe, keine Beschimpfungen

Dabei haben es Scholz und seine Minister in den vergangenen Wochen nicht immer so leicht gehabt, wenn sie mit den Bürgern, wie man so sagt, "ins Gespräch" kommen wollten. Pfiffe, Buhrufe und Beschimpfungen verfolgen sie seit einiger Zeit, oft von einer kleinen, aber lauten und organisierten Gruppe. Am Tag der offenen Tür wird nur von Rücktrittsrufen berichtet, die sich Finanzminister Christian Lindner (FDP) an diesem Wochenende gefallen lassen musste, als er zum "Bürgerdialog" auf der Bühne saß. Ansonsten ist alles sommerlich entspannt.

Auch im Verteidigungsministerium, das der 21-jährige Max Wolff aus Oldenburg an diesem Tag besucht. Er sei sieben Stunden angereist, um dabei zu sein, sagt er. Seine Mutter sei in der Kommunalpolitik bei den Grünen, er selbst in keiner Partei. Unzufrieden sei er nicht mit der Regierung. Scholz mache einen bewundernswerten Job, vor allem wenn man die Probleme bedenke, vor denen er stehe. Aber: "Ehrlich gesagt, über ihn kann ich nicht so viel sagen, weil ich ihn nicht viel mitbekomme." Anders ist das bei Wirtschaftsminister und Vorzeigekommunikator Robert Habeck (Grüne): Der sei "sehr charismatisch", sagt Wolff. "Ich mag, dass er es schafft, die Dinge auf sehr einfache Art zu erklären."

Aber selbst Habeck hat Termine mit lautem Protest hinter sich, zum Beispiel Ende Juli in Bayreuth. Aber Bayreuth ist von Berlin mindestens so weit weg wie der Winter vom Berliner Sommerwetter, und so ist die Stimmung im Innenhof des Wirtschaftsministeriums ebenfalls sehr freundlich, als Habeck auf die Bühne kommt. Fast verspätet, wie er sagt, "weil ich noch schnell ein Selfie machen musste". Vielleicht zeigt dieser Moment auch den Unterschied zwischen Scholz und Habeck. Der eine macht noch schnell Selfies, der andere stellt sich immerhin ganz an den Rand der Bühne.

Habeck spricht dann davon, dass es ihm "gerade in diesem Moment super" gehe, weil er die Termine davor und danach für eine kurze Zeit vergessen könne. Nach dem großen Thema, das viele seiner derzeitigen Termine bestimmen dürfte, wird er dann trotzdem gefragt: das Gas. "Kein Gas - diese Situation wird es nicht geben. Die Frage ist: Wie viel Gas?", sagt Habeck. Und wie groß sei die Versorgungslücke. Habeck rechnet vor, Deutschland müsste 15 bis 20 Prozent Gas einsparen, dann gebe es "eine richtig gute Chance, über den Winter zu kommen". Da ist er wieder, der Winter. Doch bis dahin spielen die Straßenmusikanten noch ganz viel Elton John im Regierungsviertel.

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