Tischtennis bei den European Championships:Der Mann, der Boll ratlos machte

Tischtennis bei den European Championships: Wer Boll aus dem Turnier wirft, sollte auch den Titel holen, fand Dang Qiu - und setzte das dann auch in die Tat um, mit erstaunlich reifen Leistungen.

Wer Boll aus dem Turnier wirft, sollte auch den Titel holen, fand Dang Qiu - und setzte das dann auch in die Tat um, mit erstaunlich reifen Leistungen.

(Foto: Sebastian Widmann/Getty Images)

Dang Qiu aus Nürtingen holt sich in München seinen ersten EM-Titel. Nach dem Sieg gegen den Rekordeuropameister ist er vor einer begeisterten Kulisse von niemandem mehr aufzuhalten. Tränen fließen nur im Finale der Frauen.

Von Andreas Liebmann

Timo Boll starrte versonnen ins Nichts. Eine Minute lang. Der Samstag in der Rudi-Sedlmayer-Halle hatte noch gar nicht recht begonnen, da musste er, der Rekordeuropameister, bereits seine Auszeit nehmen. Es sah nicht gut für ihn aus. "Ich war auf der Suche nach Lösungen", erzählte der 41-Jährige später über dieses erste Viertelfinale des Tages, "aber ich hab keine gefunden." Die Coaches hatten sich gar nicht erst an die Bande begeben für dieses Match, weil sein Gegner ja aus dem eigenen Team kam. Und dann ging alles ganz schnell. Boll schied aus, in weniger als einer halben Stunde, 7:11, 8:11, 6:11, 2:11. Der begnadete Taktiker war ratlos bis zum letzten Ball, einem Topspin, den er ebenso wenig vorausgeahnt hatte wie viele zuvor.

Der Mann, gegen den Timo Boll so machtlos war, der ständig Druck ausübte und dabei keine Fehler machte, hieß Dang Qiu. Sein 25-jähriger Teamkollege von Borussia Düsseldorf. Der Nürtinger, der den Schläger mit der immer seltener werdenden asiatischen Penholder-Griffhaltung führt, zog damit also ins Halbfinale der European Championships von München ein, am Ende als einziger Deutscher, weil später auch Dimitrij Ovtcharov im Viertelfinale ausschied, gegen Kristian Karlsson aus Schweden.

Die Zuschauer hatten sich zurückgehalten beim teaminternen Duell, lediglich mal rhythmisch geklatscht. Später klang das dann wieder ganz anders, eher so wie am Freitag, als sie die schon etwas betagte Halle zum Beben gebracht und ihre Athleten zu Siegen gebrüllt hatten. So machten sie auch am Sonntag weiter.

Genau vor 30 Jahren hat auch Bundestrainer Jörg Roßkopf bei einer Heim-EM den Titel geholt

Dass es nur eine einzige Medaille geben würde für die Männer des Deutschen Tischtennis-Bunds (DTTB), nahm Bundestrainer Jörg Roßkopf danach gelassen: In seinem Team habe es zu viele Trainingsausfälle gegeben zuletzt, da dürfe man nicht zu viel erwarten. Vermutlich ahnte er da bereits, dass es sicher nicht bei Bronze bleiben würde für Qiu, genau 30 Jahre übrigens, nachdem Roßkopf selbst in Stuttgart seinen EM-Einzeltitel holte. Und tatsächlich: Einige Stunden später zog Qiu gegen den Schweden Mattias Falck, den WM-Zweiten von 2019, ins Finale am Sonntag ein, souverän in 4:1 Sätzen. Auch Falck hatte keine Lösungen gefunden - und er sollte damit nicht der letzte sein.

Dima, Bine, Nina, Nana - vor allzu große intellektuelle Herausforderungen hatten die Rufnamen der Deutschen das Münchner Publikum zumeist nicht gestellt, den seit Jahrzehnten bewährten Sprechchor "Auf geht's, Timo, auf geht's" abzuwandeln - was den meisten der Adressaten enorm half auf dem Weg zu Medaillen. Dimitrij Ovtcharov, Sabine Winter, Nina Mitttelham und Shan Xiaona stecken hinter diesen Zweisilbern. Für Qiu, der phonetisch so ganz nicht ins Schema passt, wird man noch etwas üben müssen. Im Laufe des Halbfinals beschlossen einige Fans, "Dang Qiu" sei schließlich auch zweisilbig - andere wussten um dessen Spitznamen "Dangi". Die Sprechchöre jedenfalls kamen. Und das weitere Üben dürfte sich lohnen, denn dass Qiu keineswegs versehentlich an den Top Ten der Welt kratzt (die er kurz sogar schon mal erreicht hat), das zeigte er in München deutlich. Was letztlich nicht nur für das deutsche Tischtennis eine gute Sache ist, sondern auch für Boll selbst, der sich dadurch weiter gefordert und angespornt fühlt.

Qiu sei ein "Tischtennis-Wahnsinniger", sagt Boll, einer, der den ganzen Tag an nichts anderes denke

An Position 13 der Welt steht Qiu aktuell. Einer, der den ganzen Tag nur Tischtennis im Kopf habe, ein "Tischtennis-Wahnsinniger", wie Boll später sagte - um schmunzelnd anzufügen, er sei früher das genaue Gegenteil gewesen: "Ich bin heim und hab überhaupt nicht mehr über Tischtennis nachgedacht."

Ehe Qiu am Sonntag seinen bislang größten Auftritt hatte, rollten in der Halle Tränen. Erst bei Nina Mittelham, der 25-Jährigen aus Willich, dann auch bei Sofia Polcanova aus Österreich, ihrer Gegnerin im Frauenfinale. Mittelham hatte sich eine Schulterverletzung zugezogen, deretwegen sie nach zwei Sätzen aufgeben musste. Ihre Gegnerin wusste dann auch nicht so recht wohin mit ihren Gefühlen, so habe sie nicht gewinnen wollen. Am Vortag hatte Polcanova sich noch denkbar knapp mit 12:10 im siebten Satz gegen die begeistert angefeuerte Lokalmatadorin Sabine Winter durchgesetzt, die damit ebenso wie Shan Xiaona Bronze für den DTTB holte.

Tischtennis bei den European Championships: Tränen nach dem Aus: Nina Mittelham (vorne) musste im Einzelfinale der Frauen verletzungsbedingt aufgeben. Sofia Polcanova aus Österreich ist neue Europameisterin.

Tränen nach dem Aus: Nina Mittelham (vorne) musste im Einzelfinale der Frauen verletzungsbedingt aufgeben. Sofia Polcanova aus Österreich ist neue Europameisterin.

(Foto: Sebastian Widmann/Getty Images)

Umso heißer war das Publikum dann auf Qiu, der auch furios startete mit einer 5:1-Führung - doch auch der Finalgegner Darko Jorgic, 24, hat große Ziele, nicht nur in Europa. Als der Slowene, der inzwischen für Saarbrücken spielt, damals beim TSV Bad Königshofen sein erste Station in der deutschen Bundesliga antrat, mit 18 Jahren und einer waffenscheinpflichtigen Rückhand, da gab er als Ziel schlicht an: Er wolle die Nummer eins der Welt werden. Mutig außerhalb Chinas. Derzeit steht er an Position acht der Weltrangliste, der Weg ist also noch weit, aber ein EM-Titel war nun auch für ihn greifbar. Im Halbfinale hatte er bei 2:2-Satzgleichstand davon profitiert, dass Karlsson mit dem Daumen an der Platte hängen geblieben war und aufgeben musste. Doch gegen Qiu, den er ebenfalls aus der Liga kennt, hatte Jorgic offenbar eine Idee. Er drehte den ersten Satz, schien auch im zweiten zu enteilen - dann zeigte Qiu seine Nervenstärke, schloss wieder auf, nutzte seinen vierten Satzball zum Ausgleich - und ließ sich danach kein zweites Mal mehr von seinem Weg abringen. Mit 4:1 gewann er auch diesmal, unaufhaltsam, den letzten Satz 11:2, wie gegen Boll. Wer den aus dem Turnier werfe, müsse ja wohl auch den Titel holen, sagte er später. Die Zuschauer lachten - und hatten ihr Happy End.

Ein paar nette Botschaften hatten sie schon vorher bekommen. Von Boll etwa, dass er mitnichten aufhören werde, sondern sich auf das nächste Training mit Dang Qiu freue. Von Winter, dass die Tage in München "unfassbar viel Spaß gemacht" hätten und sie sich für dieses einmalige Erlebnis bedanke. Und von Ovtcharov: "Diese Veranstaltung", versicherte er, "ist das Schönste, was ich im Tischtennis seit vielen Jahren erlebt habe." Er, der Olympia-Dritte von 2021.

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