Karriere:Sind Schachspieler erfolgreicher im Beruf?

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Großmeister Stefan Kindermann, 63, drang in den Neunzigerjahren bis auf Platz 70 der Schach-Weltrangliste vor. Heute leitet er die Münchner Schachakademie - und schult Führungskräfte. (Foto: Stephan Rumpf)

Der Großmeister Stefan Kindermann gibt sein Wissen an Führungskräfte weiter - und erklärt, wie der Zwang, schnelle Entscheidungen zu treffen, im Job hilft.

Interview von Tanja Rest

Der österreichische Großmeister Stefan Kindermann, 62, drang in den Neunzigerjahren bis auf Platz 70 der Schach-Weltrangliste vor. Unter dem Druck der Turniersituation und der verrinnenden Zeit musste er strategische Entscheidungen treffen, bei denen er sich nicht nur auf seinen Verstand verlassen konnte. Zu diesen Themen hält er heute Vorträge und Seminare. Kindermann leitet in München die Schach-Akademie sowie die Schachstiftung, die sich für benachteiligte Kinder einsetzt; für die SZ schreibt er eine Schachkolumne.

SZ: Herr Kindermann, gemeinsam mit Robert von Weizsäcker, dem Ökonomen, Schachspieler und Sohn des früheren Bundespräsidenten, haben Sie vor zwölf Jahren das Modell Königsplan entwickelt, das sich primär an Führungskräfte richtet. Worum geht es dabei?

Stefan Kindermann: Man kann auf der Grundlage von schachlichem Denken handfeste Methoden entwickeln, die im Alltag tatsächlich anwendbar sind. Wir haben uns zunächst angeschaut, wie Spitzenkönner in bestimmten Situationen agieren. Diese Strategien haben wir herausgefiltert, um sie anderen Menschen zugänglich zu machen.

Auch Bergsteiger, Läufer oder Radfahrer behaupten, dass Manager von ihnen lernen können. Die Vorträge sind unterhaltsam, inhaltlich aber oft wachsweich. Großmeister haben da mehr auf Lager?

Sagen wir so, man kann im Schach eine Menge Fähigkeiten entwickeln, die im Business wertvoll sind, da es ein riesiges Instrumentarium für Planer und Entscheider enthält.

Dann steigen wir doch mal ein. Wie agiert man unter Druck am besten?

Viele Schachspieler könnten das gar nicht beantworten, weil es unbewusst passiert. Sagen wir, die Partie läuft bisher glatt, und plötzlich tut dein Gegner etwas Unerwartetes. Die Situation kippt, auf dem Brett ist dein König unter Feuer, die Bedenkzeit läuft dir davon. Du weißt, wenn du es nicht schaffst, innerhalb begrenzter Zeit eine Entscheidung zu treffen, verlierst du auf jeden Fall. Entscheidest du dich aber zu schnell, machst du möglicherweise einen fatalen Fehler und verlierst auch. Jeder Manager will jetzt sofort zum Telefon greifen, um den Druck abzuschütteln. Der gute Schachmeister macht etwas ganz anderes. Er nimmt sich unbedingt die Zeit, einen klaren Blick aufs Brett zu werfen.

Wenn aber doch die Zeit abläuft und er nur noch wenige Minuten hat?

Ein Freund von mir, mit dem ich früher für Bayern München gespielt habe, war sehr stark im Blitzschach: fünf Minuten für eine ganze Partie. Gerade wenn die Zeit besonders knapp geworden ist - Profis nennen das die Hackphase, weil man nur noch auf die Schachuhr haut -, hat er auch gegen gute Gegner triumphiert. Das hat mich interessiert, ich habe ihn also beobachtet.

Und?

Selbst wenn er auf der Uhr weniger als eine Minute übrig hatte und jede Sekunde wertvoll war, hat er sich fünf bis zehn Sekunden genommen, in denen er einen tiefen Zug aus der Zigarette nahm - damals durfte man beim Schach noch rauchen. Es ging aber nicht um die Zigarette. Es war, als zöge er sich die Seele der Position noch einmal richtig rein. Und erst nach diesem tiefen Blick aufs Brett hat er losgelegt. Es mag banal klingen, aber so zu handeln, dem geistigen Aktionismus zu widerstehen, das erfordert Disziplin und großen Mut.

Stichwort "Das Unerwartete passiert": Sie sprechen in dem Kontext von schwarzen Schwänen. Was bedeutet das?

Das ist eine Metapher, die auf den österreichischen Philosophen Karl Popper zurückgeht. Er beschrieb damit ein unvorhersehbares Ereignis, das aber große Auswirkungen hat. Bis ins 17. Jahrhundert hinein war die europäische Zoologie der festen Überzeugung, dass es ausschließlich weiße Schwäne gibt - bis ein Forscher nach Australien vordrang und dort einen schwarzen Schwan erblickte. Allgemein zerfällt unser Wissen in drei Kategorien: Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen; Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen; und Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen. Letztere sind die schwarzen Schwäne.

Wie aber bereitet man sich auf ein unvorhersehbares Ereignis vor?

Sich auf überraschende Umschwünge einzustellen, ist ein wichtiger Aspekt von schachlichem Denken. Theoretisch dürfte es im Schach keine schwarzen Schwäne geben: Alle möglichen Optionen sind in der Stellung der Figuren auf dem Brett bereits enthalten, insofern ist es ein Nullsummenspiel mit vollständiger Information.

Der Mensch ist nur leider kein Schachcomputer.

Eben, und gerade wenn du gegen einen starken Gegner spielst, geschieht oft etwas Überraschendes, das du kraft deiner Fähigkeiten nicht vorhersehen konntest. Sehr gute Schachspieler reagieren auf solche Umschwünge flexibel. Sie können sich eingestehen, dass sie auf jeden Fall verlieren werden, wenn sie jetzt an ihrer Strategie festhalten. Darum muss man out of the box denken - etwas Ungewöhnliches tun, das unter anderen Umständen viel zu riskant wäre, aber hier noch die beste Chance darstellt.

Das erinnert mich an ein legendäres Tennis-Match zwischen Michael Chang und Ivan Lendl bei den French Open 1989: Der Außenseiter Chang lag hinten und war körperlich völlig fertig. Da fing er an, von unten aufzuschlagen. Ein kindisch leichter Aufschlag, aber Lendl brachte den Ball ums Verrecken nicht zurück übers Netz. Chang gewann.

Und genau solche Taktikwechsel trainieren Schachspieler andauernd. Im praktischen Führungsalltag sollte man das auch von Anfang an ans Team kommunizieren: Wenn sich die Parameter ändern - die Marktlage, das Personal, die Finanzierung -, werden wir den ursprünglichen Plan auf den Prüfstand stellen und womöglich völlig über Bord werfen. Einer der größten Fehler der deutschen Politik ist es aus meiner Sicht, dass das nicht transparent gemacht wird. Bei der Pandemie etwa tauchten immer neue wissenschaftliche Erkenntnisse auf, entsprechend musste man die Maßnahmen anpassen. Bei der Bevölkerung aber kam an: Die Politik weiß nicht, was sie tut. Weil ihnen keiner erklärt hat, warum der ursprüngliche Plan geändert werden musste und dass der neue Plan vermutlich auch nicht zeitlos gültig bleibt.

Ihr Ratschlag als Großmeister?

Ein Aspekt beim Schach ist das Denken in Varianten auf ein Ziel hin, ausgehend von der gegenwärtigen Situation auf dem Brett. Sagen wir, fünf Züge in die Zukunft - aber wenn das Schachmatt dann nicht zwingend erreicht ist, kann immer noch alles schiefgehen. Darum muss man auch in die entgegengesetzte Richtung denken, indem man sich eine zukünftige Matt-Konstellation vor Augen ruft und überlegt: Was muss in der Vergangenheit passiert sein, damit sich diese Konstellation ergibt? Aus der Kombination von vorwärts- und rückwärtsgerichtetem Denken entspringen auch im Business die besten Lösungen.

Sie standen mal auf Platz 70 der Weltrangliste. Wie viele Stellungen hatten Sie verinnerlicht, um sie stets abrufen zu können?

Im Schach sagt man "Chunks". Schätzungen zufolge haben sehr starke Spieler zwischen 50 000 und 100 000 solcher Chunks gespeichert, mit denen sie während der Partie dynamisch arbeiten.

Eine Menge also. Auf der anderen Seite ist die Zahl der möglichen Partieverläufe größer als die Zahl der Atome im Universum. Man könnte sagen: Umso besser muss man vorbereitet sein. Man könnte aber auch sagen: Ratio allein hilft hier nicht weiter.

Nein, sonst würden Spieler mit steigendem Alter und wachsender Erfahrung immer besser werden, und das ist leider nicht der Fall. Weil die kristalline Intelligenz lange stabil bleibt, die fluide Intelligenz aber abnimmt. Und Sie müssen sich vorstellen: Die Konstellation auf dem Brett kann fast identisch sein mit einer früheren, aber wenn nur ein Bauer anders steht oder der Gegner am Zug ist, kann der weitere Verlauf ganz anders sein. Es geht deshalb darum, das Bekannte genauso zu erkennen wie das absolut Einzigartige der Lage.

Sie schwimmen also ...

... in einem Ozean von Möglichkeiten, in dem man mit Ratio allein untergehen würde. Die Intuition kommt dann ins Boot, wenn man erkennt: Von 20 bis 30 möglichen Zügen lohnen nur drei die weitere Betrachtung. Herauszufinden, welcher von diesen dreien der beste ist, darüber entscheidet dann der Verstand.

Jeder kennt die Situation: Ein komplexes Projekt steht an, bei dem man sofort ein schlechtes Bauchgefühl hat. Weil es aber keine rationalen Gründe dafür gibt, zieht man es durch und ärgert sich hinterher, weil es schiefgegangen ist. Woher weiß ich, in welchen Fällen der Intuition zu trauen ist und wann nicht?

Idealerweise zeigen Ratio und Intuition in dieselbe Richtung. Aber das ist natürlich nicht immer so. Deshalb ist es in der Praxis wichtig herauszufinden, ob die Intuition richtig ist. Dafür haben wir beim Königsplan Checklisten entwickelt. Ein Beispiel: Bei Risikoszenarien ist die Ratio eher gut aufgestellt, bei sozial-emotionalen Entscheidungen eher nicht. Man muss also zunächst analysieren, was die Situation charakterisiert. Intuition lässt sich auch entwickeln, indem man sich bewusst macht: In welchen Situationen ist mein Bauchgefühl gut, und wo habe ich mich schon oft getäuscht? Wir raten den Teilnehmern unserer Seminare, ihre intuitiven Prognosen auf Zettel zu notieren, damit das später für sie nachvollziehbar wird.

Eine weitere Stärke von Schachspielern müsste sein, dass sie gedanklich immer auf beiden Seiten des Bretts sitzen.

Mehr als 50 Studien weltweit belegen, dass Kinder und Jugendliche genau von dieser Situation profitieren. Sie tun sich auch beim Lesen, mathematischen Denken und bei der Konzentrationsfähigkeit leichter, das ist allerdings recht naheliegend. Interessanter finde ich, dass Schachspieler auch im sozial-emotionalen Bereich profitieren. Ich glaube, dass der Perspektivwechsel dabei eine große Rolle spielt: Wer nur über die eigene Strategie nachdenkt, wird scheitern. Man muss die Welt auch aus den Augen des Gegenspielers betrachten, dann hat man alle Informationen beisammen. Das Grundprinzip schachlicher Planung lautet: Sie muss gegen maximalen Widerstand funktionieren. Ich darf also nicht nur meine besten Züge vorausberechnen, sondern muss auch die bestmögliche Reaktion des Gegners einkalkulieren. Und das hat etwas mit Respekt zu tun. Schachspieler lernen, den anderen als denkendes Wesen zu respektieren.

Nimmt man Sie beim Wort, müssten aus ehemaligen Großmeistern später durch die Bank fantastische Geschäftsleute geworden sein.

Na ja. Natürlich kann man nicht jeden Schachspieler auf eine Management-Position setzen, ein bisschen was muss schon noch dazukommen. Aber ich habe mir tatsächlich angeschaut, was aus sehr starken Spielern geworden ist, die eine wissenschaftliche oder unternehmerische Karriere eingeschlagen haben. Ich habe auch Unternehmer gefragt, die privat starke Spieler waren. Alle sagen, dass sie von ihrem Schach-Können profitiert haben. Eines der prominentesten Beispiele ist der Großmeister Ken Rogoff, in den Siebzigern einer der besten Spieler der USA. 1999 bekam er eine Harvard-Professur, von 2001 bis 2003 war er Chefökonom des Internationalen Währungsfonds.

Und dabei hat ihm das Spiel geholfen?

In Interviews erzählt er bis heute, wie stark ihn das schachliche Denken geprägt hat. Mehrere Züge im Voraus berechnen und sich vorstellen zu können, wie die anderen Player reagieren würden: Das war für ihn die zentrale Fähigkeit.

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