SZ-Serie: Platz da! Kreativquartiere in Bayern:Bayreuth Underground

SZ-Serie: Platz da! Kreativquartiere in Bayern: Die Tür aus dem alten Subkulturzentrum an der Kämmereigasse 9 ½, die aktuell die Bar des Ausweichquartiers am Gerberplatz schmückt, bis das "Neuneinhalb" saniert ist.

Die Tür aus dem alten Subkulturzentrum an der Kämmereigasse 9 ½, die aktuell die Bar des Ausweichquartiers am Gerberplatz schmückt, bis das "Neuneinhalb" saniert ist.

(Foto: Adrian Infernus)

Wagner ist nicht alles in der Festspielstadt - das "Neuneinhalb" sieht sich als Gegenentwurf zu Hochkultur und Kommerz. Aktuell in einem Ausweichquartier untergebracht, hoffen die Macher auf den Umbau einer alten Metzgerei zum Kunst- und Kulturhaus.

Von Jutta Czeguhn

Wer im August nach Bayreuth reist, der entkommt ihm einfach nicht - Richard Wagner auf Schritt und Tritt, auch wenn man eigentlich in ganz anderer Mission in der Festspielstadt unterwegs ist: zur Erkundung der hiesigen Subkultur. Ein wenig atemlos folgt man Matthias Mayer übers Katzenkopfpflaster durch Bayreuths pittoreskes Gassenviertel jenseits des Marktplatzes.

Qua Geburt kennt er hier jeden Winkel, jede Abkürzung, hat deshalb ein ordentliches Tempo drauf, zudem zwei sehr lange Beine. Wir kommen an der legendären "Eule" vorbei, jenem Restaurant, in dem Wagner höchstselbst sein Bier trank und "Blaue Zipfel" aß und das zum Stammlokal seiner Abkömmlinge, Anbeter, naja, eben zum Speise-Walhall der Wagnerianer wurde. Wir lassen es links liegen, unser Ziel ist ganz in der Nähe das "Neuneinhalb". Hört sich unfertig an, nach Mittelding, nach offener Struktur.

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(Foto: SZ-Grafik)

Jüngst kam es auf die Shortlist im Wettbewerb "Kreativorte in Bayern"

Stimmt alles irgendwie, aber es geht auch ganz unprosaisch. Matthias Mayer ist bei einem alten, vierstöckigen Haus mit bröckelnder Backsteinfassade angekommen und zeigt nach oben: "9½. Kämmereigasse" steht auf einem angerosteten Emailleschild. Dann bittet er hinein, denn er hat den Schlüssel für einen Ort mit Vergangenheit, der für ihn und viele Bayreuther jedoch so etwas wie ein Versprechen auf die Zukunft ist, die es hier hoffentlich bald geben soll - und für die andernorts schon mal geprobt wird. Klingt wirr nach Utopie, ist aber sehr real, und ganz real ist auch die Wertschätzung, die das "Neuneinhalb" jüngst erfahren hat.

Beim Wettbewerb "Kreativorte in Bayern" der Staatsregierung kam das Bayreuther Kulturprojekt, das paradoxerweise gerade zwischen zwei Spielstätten hängt, auf die Shortlist, immerhin unter die ersten zwölf von 180 Bewerbern. Und den Kulturpreis der Stadt Bayreuth 2023 hat "Neuneinhalb" auch schon sicher.

SZ-Serie: Platz da! Kreativquartiere in Bayern: Investieren ehrenamtlich ziemlich viel ihrer Zeit in die Bayreuther Offkultur: (v.l.) Matthias Mayer und Markus Spona, Vorstandsmitglieder des Vereins "Neuneinhalb".

Investieren ehrenamtlich ziemlich viel ihrer Zeit in die Bayreuther Offkultur: (v.l.) Matthias Mayer und Markus Spona, Vorstandsmitglieder des Vereins "Neuneinhalb".

(Foto: Adrian Infernus)

Wir stehen nun in einem Raum, in dem sich die Zeitebenen seltsam überlappen: Das bodentiefe Schaufenster erinnert an die Wurstauslagen der Metzgerei, die sich hier einst befand. 1999, Jahre nach dem Tod des Eigentümers, erwarb die Stadt das leerstehende Baudenkmal samt ehemaligem Schlachthaus, dessen Geschichte bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Sie tat das mit der vagen Idee, im Gassenviertel so etwas wie ein Kulturquartier zu schaffen, mit der Hausnummer 9 ½ als Verbindung zwischen dem ebenfalls hier gelegenen Historischen Museum und dem Kunstmuseum.

Etwa zu dieser Zeit war eine Gruppe junger bildender Künstler mit dem verheißungsvollen Namen "Forum Phoinix" auf der Suche nach Ausstellungsräumen. "Wenn's euch taugt, könnt ihr's mietfrei nutzen", bot der Kulturreferent der Stadt an. So wurde das alte Metzgerhaus zu einer "festen Anlaufstelle für den Bayreuther Untergrund", sagt Matthias Mayer.

Mülltonnen, ein einziges Klo, keine Zentralheizung

Das "Forum Phoinix", wie der der Offkultur-Ort auch bald hieß, erinnerte mehr an Berlin-Kreuzberg als an Oberfranken. "Die Stadt hatte den Eingangsbereich als Lager für Mülltonnen vermietet, man musste damals also an einem Tonnen-Spalier im Hinterhof vorbei durch eine Tür in ein komplett verfallenes Haus", erzählt Mayer. Heute, da es nun erneut leer steht, Böden aufgerissen, Strom und Wasser abgestellt sind, kann man sich das alles gut vorstellen, diese Zeit des Improvisierens, des Ist-Doch-Saucool zwischen Siebzigerjahre-Tapeten.

Egal, dass es nur ein einziges Klo gab, keine Zentralheizung, nur diesen alten Kachelofen, der nun schon lange kalt ist. Damals, erinnert sich Mayer, hätte man das Haus gaststättenrechtlich gar nicht nutzen dürfen, weshalb man auf den Dreh mit den Mitgliedsanträgen kam: Mitglied für einen Tag oder Monat, dann gab's ein Bier. "Aber das war auch der Charme des Gebäudes", schwärmt Mayer bei dieser kurzen Besichtigungstour.

SZ-Serie: Platz da! Kreativquartiere in Bayern: Das ehemalige Metzgerhaus an der Kämmereigasse 9 ½ . Das sogenannte Gassenviertel, in dem es steht, ist Sanierungsgebiet. Die Stadt will hier einiges auf Vordermann bringen, das künftige Kunst- und Kulturhaus "Neuneinhalb" ist Teil des Projekts.

Das ehemalige Metzgerhaus an der Kämmereigasse 9 ½ . Das sogenannte Gassenviertel, in dem es steht, ist Sanierungsgebiet. Die Stadt will hier einiges auf Vordermann bringen, das künftige Kunst- und Kulturhaus "Neuneinhalb" ist Teil des Projekts.

(Foto: privat)

2013 trat dann der Verein "Kültürklüb" im Forum Phoinix auf den Plan, immer dienstags gab es die Reihe "Sübkültür". Das Programm wurde breiter, neben der Kunst gab es nun auch Konzerte, Lesungen, Theater, Slam, Kino. Ein paar hundert Veranstaltungen, und das bis heute. Aktuell aber halt nicht mehr in der Kämmereigasse 9 ½, denn das baufällige Haus steht seit 2021 wieder leer. Der Stadt war die Sache zu heikel, zu gefährlich geworden. Was tun mit dem bröckelnden Denkmal? Die Frage stellte sich erneut. Luxussanieren? Appartements, Büros? Die Kreativen rauskicken?

Nein, die Kommune lud die Phoinix-Leute und den Kültürklüb ein, an den Plänen für ein neues Kunst- und Kulturhaus hier im Gassenviertel mitzuwirken. Das war bereits Ende 2016, die "AG Neuneinhalb" wurde gegründet und stellte 2017 ein umfassendes Nutzungs- und Raumkonzept vor: Das alte Metzgerhaus soll Platz bieten für Veranstaltungsräume, Ateliers, Künstlerwohnungen, ein Café, für einen Kinosaal mit etwa 30 Plätzen im ehemaligen Schlachthaus. Der Stadtrat zeigte sich überzeugt, 2018 gab es einen einstimmigen Beschluss. Die Planungsphase begann, mit Ingenieursbüro, Architekten, Brandschutzgutachten, Denkmalschutz, Schadstoffanalysen. Tja, und dann kam die Pandemie, und man ahnt schon, was Matthias Mayer gleich sagen wird: "Das Projekt liegt seither in der Schublade."

Auch das Ausweichquartier ist ein Ort mit Vergangenheit

SZ-Serie: Platz da! Kreativquartiere in Bayern: Der Zapfhahn an der Theke der Interimsspielstätte am Gerberplatz: Vieles hier erinnert an die Vergangenheit des Hauses als Jazzkneipe "Podium" und zuletzt als Club "Koco", der die Pandemie nicht überlebte.

Der Zapfhahn an der Theke der Interimsspielstätte am Gerberplatz: Vieles hier erinnert an die Vergangenheit des Hauses als Jazzkneipe "Podium" und zuletzt als Club "Koco", der die Pandemie nicht überlebte.

(Foto: Adrian Infernus)

Der Pandemie ist es aber auch zu verdanken, dass Bayreuths Off-Szene nicht heimatlos geworden ist, als sie endgültig raus musste aus der Kämmereigasse 9 1/2. Schauplatzwechsel: Vom alten Metzgerhaus folgt man Mayer zu einem anderen Ort mit Tradition in Bayreuth, zur ehemaligen Jazzkneipe "Podium" am Gerberplatz. Dorthin hat sich der Verein, der aus der AG hervorging, interimsmäßig nun umgetopft und den Namen "Neuneinhalb" einfach mitgenommen. "Wenn man so will, sind wir Profiteure der Pandemie", sagt Matthias Mayer, der dem Verein vorsitzt. Sein Vorstandskollege Markus Spona ist dazugekommen.

In einem Raum mit Wohnzimmercharakter voller bunt zusammengewürfelter Möbel und einem riesigen Jesus-Schinken an der Wand erzählen die beiden, wie sich alles fügte. Wie der Disco-Betreiber, der vorher hier drin war, coronabedingt dicht machte und das Neuneinhalb einziehen konnte in das ebenfalls städtische Gebäude, Miete inklusive Nebenkosten etwa 1200 Euro. Alles erinnert hier noch an die lässige Club-Vergangenheit: der Einlass, die Bar mit der petrolfarbenen Theke, wo eine Africola 1,50 und ein Bayreuther Helles 2 Euro kosten, der niedrige Raum, in den bei geöffneter Flügeltür bis zu 130 Konzertbesucher reinpassen. Während des Lockdowns haben sie hier in Zweier-Schichten geschuftet und in Eigenregie saniert. Ein IT-Freak unter den mittlerweile knapp 80 Neuneinhalb-Mitgliedern habe die Haustechnik programmiert, die man nun vom iPad aus steuern könne, erzählt Matthias Mayer stolz. Jeder der Ehrenamtlichen gebe nicht nur viel seiner Lebenszeit, sondern teile auch sein Know-how. Mayer etwa ist Konzertveranstalter, Markus Spona Medienproducer.

Was, wenn die vom Grünen Hügel mal anklopfen?

SZ-Serie: Platz da! Kreativquartiere in Bayern: Bis zu 130 Konzertbesucher haben Platz im "Neuneinhalb" am Gerberplatz, hier ein Auftritt der Nürnberger Band "Ferge X Fisherman".

Bis zu 130 Konzertbesucher haben Platz im "Neuneinhalb" am Gerberplatz, hier ein Auftritt der Nürnberger Band "Ferge X Fisherman".

(Foto: Adrian Infernus)

Im Neuneinhalb am Gerberplatz wird nun seit Sommer 2021 schon mal geprobt, was später das "große" Kulturhaus in der Kämmereigasse 9 1/2 ausmachen soll: Filmreihen, Kleinkunst, Ausstellungen, Theater, Liederabende, Lesungen, Comedy, den "Süb Slam", Bayerns kleinsten Poetry Slam, Konzerte von Avantgarde Pop bis Post Punk oder der Lesereihe "Africa Multiple". Und jeden ersten Montag ist hier offenes Haus, da wird dann immer die neue "Kulturnische" eingeweiht, eine Art Mini-Apsis für Kunst-Soli, von Multimedia über Graffiti bis hin zu einer Vulven-Ausstellung, all das gab es schon.

Apropos Nische. Wie positioniert sich der Untergrund in einer Hochkultur-/Weltkulturerbestadt wie Bayreuth? Kurzes Nachdenken: Mayer und Spona sehen ihr Neuneinhalb als Gegenentwurf zur kommerziellen Kultur. Sie wollen eine Leerstelle füllen, möglichst niederschwellig. Ob man denn wisse, dass es keinen einzigen Livemusik-Club in der Bayreuther Innenstadt gebe, kein Arthouse-Kino? Das Potenzial in der Stadt sei groß, vieles existiere hier organisch nebeneinander.

Die "Schokofabrik", die etwas Ähnliches mache im Bereich Jugendarbeit, das "Glashaus" draußen am Uni-Campus, jede Menge Vereine. Das Neuneinhalb, das allen Kulturinstitutionen offen stehe, wolle hier ein Brückenbauer sein, aktuell am Gerberplatz und irgendwann wieder an der Kämmereigasse. Und wenn auch die vom Grünen Hügel mal anklopfen? Matthias Mayer hat die Frage wohl erwartet: Nun, man würde sich nicht verschließen, aber Wagner, das ginge im Neuneinhalb halt wirklich nur subversiv.

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