SZ-Serie Olympisches Erbe:Hohe Wellen und schlechte Vorzeichen

Lesezeit: 5 min

Hohe Sprünge gelingen auf ruhigen Seen besser als beim Wellengang vor Kiel. Hagen Klie - hier auf einem Bild von 1973 - schaffte dennoch den zweiten Platz. (Foto: Privat)

Das IOC erweitert stetig das Olympia-Programm, um neue Attraktionen zu liefern. 1972 sind Wasserski und Badminton testweise dabei - doch die Spiele enden für beide Sportarten ernüchternd.

Von Lisa Sonnabend

Es ist 6 Uhr morgens, als die olympische Karriere von Hagen Klie, die streng genommen gar keine ist, beginnt und wenig später bereits wieder endet. Erstmals ist am 2. September 1972 Wasserskifahren bei Olympia dabei, allerdings als sogenannter Demonstrationswettbewerb, das bedeutet: Die Funktionäre des Internationalen Komitees (IOC) sollen die Möglichkeit bekommen, sich die Sportart genauer anzuschauen, und es wird getestet, wie das Publikum diese annimmt. Fällt das Urteil positiv aus, wird die Sportart ins olympische Programm aufgenommen. Hagen Klie, der in Hann-Münden bei Göttingen trainiert, ist nervös an diesem frühen Morgen. "Der Wettkampf war für uns eine große Sache", erinnert er sich. Eine Riesenchance für ihn, vor einem weltweiten Publikum seine gewagten Sprünge zu zeigen.

Eigentlich sollten die Wettbewerbe im Slalom, Sprung und Trick-Ski auf der Ruderregattastrecke in Oberschleißheim ausgetragen werden, doch wegen Terminproblemen wurden sie nach Kiel verlegt, wo auch die olympischen Segelwettbewerbe stattfanden. Dort herrschten alles andere als ideale Bedingungen für die Wasserskifahrerinnen und Wasserskifahrer. Beim Testlauf bei der Deutschen Meisterschaft einige Wochen zuvor hatten sie mit viel zu hohen Wellen zu kämpfen. Da morgens die See meist ruhiger ist, mussten die Wasserskifahrer nun sehr früh aufstehen. Ein Wettbewerb unter unguten Vorzeichen.

Newsletter abonnieren
:München heute

Neues aus München, Freizeit-Tipps und alles, was die Stadt bewegt im kostenlosen Newsletter - von Sonntag bis Freitag. Kostenlos anmelden.

Anfang der Siebzigerjahre lehnte das IOC noch immer jegliche Kommerzialisierung des Sports ab. Die Amateurregel verbot es Athletinnen und Athleten, die mit ihrem Sport Geld verdienen, bei Olympia anzutreten. Doch die Funktionäre selbst dachten bereits an Profit, sie folgten einem großen Expansionsdrang. Schon damals war ihnen bewusst: Die Spiele müssen sich erneuern, immer wieder neue Attraktionen liefern, um populär und erfolgreich zu bleiben. Das Programm wurde deswegen stetig angepasst und erweitert.

1896, bei den ersten Spielen der Neuzeit, wurden 43 Goldmedaillen in neun Sportarten vergeben. 1972 waren es bereits 195 in 21 Sportarten. Zwar war Tauziehen inzwischen längst wieder aus dem Programm geflogen, dafür waren nun die Handballer in München erstmals bei Olympia dabei, die Bogenschützen erstmals seit Langem wieder. Goldmedaillen wurden erstmals auch im Fliegengewicht beim Gewichtheben oder bei der 4×400-Meter-Staffel der Frauen vergeben.

Neu dabei: Skateboarden, BMX und Surfen

Heute stehen noch einmal fast 150 Entscheidungen mehr auf dem Programm als vor 50 Jahren in München: 339 Wettbewerbe wurden bei den Spielen 2021 in Tokio ausgetragen. Erstmals dabei in Japan: die Trendsportarten Skateboarden, BMX, Sportklettern und Surfen. Das Kalkül des IOC ist klar, es will attraktiv für die junge Zielgruppe bleiben, neue Märkte erschließen, damit der Mythos weiterlebt.

Vor 50 Jahren galt Wasserski als ziemlich angesagt. Erfunden wurde die Sportart in Florida, seit Mitte der Sechziger probierten es immer mehr Touristinnen und Touristen aus - ob in Milano Marittima, Rimini oder am Bodensee. 1957 gründete sich der Wasserski-Klub Hann-Münden, Hagen Klie wurde Mitglied. Als zweite Disziplin war in München Badminton im Demonstrationswettbewerb dabei, das in Asien zu diesem Zeitpunkt bereits Massen faszinierte.

Roland Maywald erinnert sich noch gut an die Tage in München. Auch wenn der Badminton-Spieler aus Bonn nicht mit den offiziellen Olympiateilnehmern bei der Eröffnungsfeier einlaufen durfte und nicht mit den Mannschaftsanzügen eingekleidet wurde, empfand er die Atmosphäre als eine ganz besondere. "Erstmals hatte ich die Gelegenheit, mit den starken Spielern aus Indonesien oder Malaysia zu trainieren und mit ihnen ins Gespräch zu kommen, da sie alle im Olympischen Dorf wohnten", sagt er. Abends ging er mit ihnen in die Disco Bavariaclub. Im Doppel und Mixed kam der damals 26-jährige Maywald, der kurz zuvor bereits Europameister geworden war, schließlich sogar auf den dritten Platz. Die Stimmung am 4. September 1972 in der Volleyballhalle im Olympiapark sei hervorragend gewesen, so schildert es Maywald. IOC-Präsident Avery Brundage persönlich nahm die Siegerehrung vor. "Wir waren uns sicher, dass Badminton bereits 1976 in Montreal ins olympische Turnier aufgenommen wird", sagt Maywald. Doch es kam anders.

Im Weltverband traten Differenzen zwischen den europäischen und asiatischen Ländern auf, kurzzeitig spaltete sich der Verband sogar in zwei. Das gefiel den Funktionären weniger, die Aufnahme ins Programm war zunächst vom Tisch. 20 Jahre dauerte es, ehe Badminton 1992 in Barcelona schließlich eine olympische Sportart wurde. "Das war für mich natürlich doof, da meine Karriere längst vorbei war", sagt Maywald.

Die Medaille bekommt er erst Wochen später per Post zugeschickt

Auch für Hagen Klie und die Wasserskifahrer lief es 1972 in Kiel alles andere als optimal. Der Weltrekord in der Disziplin Sprung lag damals bei 50 Metern, Klies Bestmarke bei 48 Metern. Doch derartige Weiten wurden wegen der unruhigen See vor Kiel nicht erzielt. Die Fahrer nahmen sich zurück, zu gefährlich war es aufgrund der Verhältnisse, auf bis zu 100 Kilometer pro Stunde zu beschleunigen und von der Schanze abzuspringen. Klie landete nach 37,70 Metern, das bedeutete immerhin Platz zwei hinter dem Amerikaner Ricky McCormick und gleichauf mit Max Hofer aus Südtirol. Bei der Siegerehrung sei dann allerdings nur eine Silbermedaille vorrätig gewesen, erinnert sich Klie. Auf zwei Zweitplatzierte war man nicht vorbereitet. Der Deutsche überließ sein Silber dem Südtiroler, er bekam eine eigene Medaille erst Wochen später per Post zugeschickt.

Viel schlimmer war jedoch: Schon vor dem Wettbewerb hatten einige IOC-Funktionäre sich skeptisch über die Sportart geäußert, da ihrer Meinung nach die Fahrerinnen und Fahrer beim Wasserski zu sehr auf die Hilfe des Bootes angewiesen seien. "Dabei stimmt das nicht. Wasserski ist technisch anspruchsvoll, man braucht viel Ausdauer und Kraft", sagt Hagen Klie. "Doch da kaum Funktionäre da waren und vor Ort zuschauten, rechneten wir uns wenig Chancen aus, ins reguläre Programm aufgenommen zu werden." Außer Willi Daume, dem Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland, war kaum ein IOC-Funktionär nach Kiel gereist, um sich das Springen anzusehen. Klie lag richtig mit seinem Gefühl, Wasserski wurde nie olympisch.

Ein Schicksal, das es mit Boule, Ballonfahren oder Schlittenhunderennen teilt. Auch diese Demonstrationssportarten wurden einst nach einem Testversuch nicht ins offizielle Programm aufgenommen. Andere schafften es. 1988 kam - nach dem Aufheben der Amateurrichtlinien - Tennis hinzu, 1996 in Atlanta Beachvolleyball oder 1998 in Nagano Snowboarden.

Erfrischende Bilder: Sky Brown aus Großbritannien bei den Spielen in Tokio. (Foto: Marijan Murat/dpa)

2024 in Paris wird erstmals Breakdance und Kitesurfen olympisch - spektakuläre Bilder sind garantiert, die Sportarten lassen sich bei der jungen Zielgruppe gut vermarkten. Beim Skateboarden in Tokio rutschte die damals erst 13-jährige Sky Brown aus Großbritannien, die mit ihren Profilen in den sozialen Medien ein Millionen-Publikum erreicht, auf einem Treppengeländer herunter und lieferte erfrischende, nie zuvor gesehene Impressionen. Skateboard-Ikone Tony Hawk brachte es vor den Spielen in Tokio auf den Punkt, als er sagte: "Das Skateboarden braucht die Olympischen Spiele nicht. Aber die Olympischen Spiele brauchen das Skateboarden, weil der Sport cool ist und er ein deutlich jüngeres Publikum anzieht."

Wasserski dagegen spielt in den Überlegungen des IOC schon lange keine Rolle mehr, inzwischen ist Wakeboarding populärer, weil es einfacher zu erlernen ist. Die Fahrer stehen auf einem Brett, nicht auf zwei Skiern. 2028 in Los Angeles könnte Wakeboarden als offizielle Sportart dabei sein, sie steht auf der sogenannten Shortlist des IOC.

Der 74-jährige Hagen Klie fährt 50 Jahre nach den Spielen in München noch immer Wasserski am Werrastrand in Hann-Münden. Nach dem Ende seiner aktiven Zeit hat er zahlreiche Medaillen und Pokale aus dem Regal genommen und entsorgt. Doch die Silbermedaille von Olympia 1972 bewahrt der Wasserskifahrer noch immer auf. "Die halte ich in Ehren", sagt er. Auch wenn seine Olympiamedaille gar keine echte ist. Einmalig ist sie.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusDie Mode zu den Spielen 1972
:Polizisten in Himmelblau

Der Franzose André Courrèges entwirft 1972 nicht nur die berühmten Dirndl für die Hostessen - er kleidet alle Offiziellen und Helfer ein. Durch seinen Münchner Look ist das Olympiastadion bunt gefüllt.

Von Julia Werner (Text), Felix Hunger, Dominik Wierl und Katja Schnitzler (digitale Umsetzung)

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: