Xinjiang-Bericht der Menschenrechtskommissarin:China am Pranger

UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet

Paukenschlag zum Schluss: Die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet hat an ihrem letzten Amtstag den Bericht zur Lage der Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang vorgelegt

(Foto: Fabrice Coffrini/AFP)

UN-Menschenrechtskommissarin Bachelet veröffentlicht in ihren letzten Amtsminuten den lange angekündigten Bericht über Pekings Menschenrechtsverstöße in Xinjiang. Der Bericht ist deutlich - und ein möglicher Wendepunkt.

Von Florian Müller und Isabel Pfaff

Viele haben nicht mehr daran geglaubt, doch Michelle Bachelet hat Wort gehalten: Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte hat am Mittwoch, ihrem letzten Tag im Amt, jenen Bericht über China veröffentlicht, auf den die Weltöffentlichkeit seit Monaten gewartet hat. Nur wenige Minuten vor Mitternacht schaltete das Büro der Kommissarin das Dokument von knapp 50 Seiten auf, das die Menschenrechtssituation in der autonomen Uiguren-Provinz Xinjiang untersucht. Bachelet, die vor allem gegen Ende ihrer Amtszeit für ihren zurückhaltenden Ton gegenüber China heftig kritisiert worden war, hat sich damit mit einem Paukenschlag aus dem Amt verabschiedet.

Dass die chinesische Regierung in Xinjiang schwerste Menschenrechtsverstöße begeht, werfen ihr Forscher, Menschenrechtler und Exil-Uiguren seit Jahren vor. Medien- und NGO-Berichte, die sich auf Zeugenaussagen, Satellitenbilder, herausgeschmuggelte Fotos und geleakte Regierungsdokumente stützen, legen nahe, dass das Regime in Peking in den vergangenen Jahren willkürlich Hunderttausende Angehörige der muslimischen Minderheit der Uiguren in Umerziehungslager gesperrt hat und viele foltern und vergewaltigen ließ. Auch die kulturelle Identität der Uiguren will das Regime offenbar auslöschen: Es soll den Berichten zufolge Moscheen zerstören und Menschen zwangssterilisieren. Die USA und das EU-Parlament sehen darin Anzeichen eines Genozids.

Hinweise auf Folter und sexualisierte Gewalt werden als "glaubwürdig" eingestuft

Das Büro der Menschenrechtskommissarin (OHCHR) zieht in seinem Bericht ähnliche Schlüsse - noch dazu in einer für UN-Menschenrechtsdokumente bemerkenswerten Klarheit. Statt nur von "Berichten" oder "Hinweisen" zu sprechen, schreiben die Autoren im Indikativ von "schweren Menschenrechtsverletzungen", die in Xinjiang begangen worden seien. Die chinesischen Anti-Terrorismus-Gesetze seien "hochproblematisch" in Bezug auf internationale Menschenrechtsstandards. Und die Hinweise auf Folter, Misshandlung und sexualisierte Gewalt "glaubwürdig". Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass das Ausmaß der willkürlichen und diskriminierenden Verhaftungen von Uiguren und Angehörigen anderer muslimischer Gruppen internationale Verbrechen darstellen könnte - "insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit".

Die 48 Seiten stützen sich auf öffentlich zugängliche offizielle Quellen aus China, Forschungsmaterial, Satellitenbilder und auch 40 eigens geführte Interviews mit Zeuginnen und Zeugen, von denen mehr als die Hälfte angegeben hatte, interniert worden zu sein. Das gesamte Material sei unabhängig und kritisch auf Glaubwürdigkeit und Aussagekraft hin analysiert worden.

Chinas 131 Seiten lange Antwort auf den Bericht wird gleich mitveröffentlicht

Und: "Gemäß der üblichen OHCHR-Praxis" habe man der chinesischen Regierung die Möglichkeit gegeben, den Bericht vorab zu lesen und "faktische Kommentare" abzugeben. Das Ergebnis hat Bachelets Büro in der Nacht auf Donnerstag gleich mitveröffentlicht: Chinas Antwort auf den Bericht, 131 Seiten lang. Peking hat in den vergangenen Jahren mit aller Macht versucht, eine Verurteilung der Ereignisse in Xinjiang seitens der UN zu verhindern und stattdessen ein eigenes Narrativ von Menschenrechten zu etablieren - eines, in dem das Recht auf wirtschaftliche Entwicklung über individuellen Freiheitsrechten steht. Nun schreibt die Genfer Vertretung Chinas, dass sich Peking "entschieden" der Veröffentlichung des Berichts widersetze. Die Untersuchung, die auf "Lügen" basiere, verzerre die chinesische Politik, verleumde China und interveniere unrechtmäßig in die internen Angelegenheiten des Landes.

Tatsächlich ist der Text aus Bachelets Büro ein harter Schlag gegen das Regime. Noch nie hat eine derart hochrangige UN-Institution wie das OHCHR Chinas Verbrechen in Xinjiang so deutlich benannt und verurteilt. Die Vereinten Nationen machen damit klar, dass Menschenrechte universell sind und Verstöße nicht ignoriert werden, nur weil sie in mächtigen Staaten geschehen. Das ist ein großer Erfolg für Pekings Kritiker und auch für Bachelet selbst - vor allem, weil dieser Schritt auffällig lange auf sich warten ließ.

Seit Michelle Bachelets Amtsantritt 2018 drangen nur wenige Themen derart auf die Menschenrechtsagenda wie Chinas Umgang mit den Uiguren. Trotzdem passierte diesbezüglich kaum etwas: Der UN-Menschenrechtsrat schaffte es nicht, entsprechende Resolutionen oder eine Untersuchungskommission auf den Weg zu bringen - so groß ist der Einfluss Pekings auf die Ratsmitglieder.

Die Hochkommissarin ist selbst Folteropfer

Die Hochkommissarin wiederum, Chilenin und einst selbst Widerstandskämpferin und Folteropfer, bemühte sich zwar von Beginn ihrer Amtszeit an um einen Besuch in China, um den lauter werdenden Anschuldigungen an China bezüglich Xinjiang nachzugehen, wie sie mehrmals öffentlich betonte. Zu dem Besuch kam es aber erst im Mai 2022 - und von einem ungehinderten Zugang zu der Provinz und einer unabhängigen Untersuchung konnte keine Rede sein. Bachelet wurde zudem scharf angegriffen für ihre zurückhaltenden, sogar anbiedernden Statements während der Reise.

Hinzu kam: Der Untersuchungsbericht zu Xinjiang, den Bachelets Büro bereits im September 2021 in Aussicht gestellt hatte, blieb bis zuletzt unveröffentlicht. Immer mehr Beobachterinnen und Experten vermuteten eine Einflussnahme Pekings und warfen Bachelet vor, vor dem Regime einzuknicken. Als sich auch nach ihrem missglückten China-Besuch nichts tat und sie kurz darauf ankündigte, nicht mehr kandidieren zu wollen, galten Bachelet selbst und ihr zurückhaltender China-Kurs endgültig als gescheitert.

Nun, da der Bericht draußen ist, würdigen zwar viele dessen Klarheit und Schärfe. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch etwa, die bislang zu den härtesten Kritikern von Bachelets China-Kurs gehörte, nennt den Bericht "bahnbrechend". Auch Amnesty International schreibt anerkennend: "Der Bericht legt das Ausmaß und die Schwere der Menschenrechtsverletzungen offen, die in Xinjiang stattfinden."

Ein Vorwurf: Bachelet entziehe sich der Diskussion und verpasse die Möglichkeit, Führung zu übernehmen

Doch das Echo ist nicht nur positiv. Mehrere Beobachter monieren, dass wenig Neues in dem Report stehe. Amnesty International bezeichnet zudem die Verspätung des Berichts als "nicht zu entschuldigen". Olaf Wientzek von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Genf kritisiert den Zeitpunkt der Veröffentlichung so kurz vor Bachelets Amtsende. "Sie wirft den Bericht hin und sagt: Jetzt seht zu, wie ihr damit zurechtkommt." Sie entziehe sich damit der Diskussion und verpasse die Möglichkeit, jetzt die Führung zu übernehmen.

Tatsächlich kommt es nun darauf an, was die Staatengemeinschaft mit den Erkenntnissen aus dem Dokument macht. Ganz sicher werden Chinas Kritiker nun einen neuen Anlauf im Menschenrechtsrat nehmen, um Peking in einer Resolution zu verurteilen oder sogar eine Untersuchungskommission auf den Weg zu bringen, eines der mächtigsten Instrumente des Rats. Das würde zwar in China selbst nicht viel ändern: Peking lässt unabhängige Beobachter nicht einfach nach Xinjiang, und Ermittlungen durch den Internationalen Strafgerichtshof sind ebenfalls höchst unwahrscheinlich, da China sie als Vetomacht im UN-Sicherheitsrat stoppen kann. Doch der Druck auf die Staatengemeinschaft, Peking zu isolieren, könnte durch eine klare Positionierung im Menschenrechtsrat wachsen.

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