1964:Beifall und Buh

1964: "Der Buhende muss sich genauso irren können wie der zufrieden Klatschende": SZ-Kulturkritiker Joachim Kaiser.

"Der Buhende muss sich genauso irren können wie der zufrieden Klatschende": SZ-Kulturkritiker Joachim Kaiser.

(Foto: Regina Schmeken/Sueddeutsche Zeitung Photo)

Warum auch die Missfallensbekundung eine wichtige kulturkritische Bedeutung hat

Von Joachim Kaiser

"Das Publikum ist also mündig, auch wenn es irrt, Unbildung verrät, falsche Lieblinge und falsche Opfer wählt": Joachim Kaiser (1928 - 2017) war jahrzehntelang einer der bedeutendsten Kritiker für Literatur, Musik, Theater in der Bundesrepublik. Er schrieb seit 1959 als Leitender Redakteur für die SZ freigeistige und scharfsinnige Texte wie diesen aus dem Jahr 1964, als sich Bühnenintendanten über Missfallenskundgebungen der Zuschauer mokierten.

Aller Anfang war schwer. Schauspieler, die missfielen, mussten mit Geißelungen rechnen. Laut Eustartios gab es für durchgefallene Theaterdichter sogar die Todesstrafe, und ein Mime namens Alexandrios soll, eines willkürlich abgeänderten Euripides-Verses wegen, zum Hungertod verurteilt worden sein.

Dergleichen hält, selbst nach furchterregenden Aufführungen, heutzutage niemand für wünschenswert. So sicher sind wir unserer Maßstäbe nicht. Doch die fast unumschränkte Freiheit unserer Schauspiel- und Opernbühnen hat nur Sinn, wenn sie auch auf eine lebendig reagierende Öffentlichkeit stößt. Der mittlere Abonnentenapplaus, der unausbleibliche Routinebeifall stellt eine solche lebendige Reaktion nicht dar.

Sondern? Wie kann das Publikum zeigen, daß es eine aktive (und nicht durch technische Medien millionenfach passive) Öffentlichkeit ist? Dadurch, daß es seinen Beifall zwischen Piano und Forte abstuft wie ein Chor? Gewiß nicht - denn die Klatscher sind verschiedener Ansicht, und ein paar Entfesselte übertönen doch die Stillen, machen sie verschwinden. Dadurch, daß es schweigt und den Kritiken des nächsten Tages vertraut? Gewiß nicht - denn Schweigen ist überhaupt keine Reaktion, vielmehr meist ein totes, gelähmtes Nicht-mit-Reden (dem wirklichen Künstler unangenehmer als betroffener Protest), und auf die Kritiken darf niemand bauen: Sie sind nicht identisch mit der Öffentlichkeit, für die sie freilich selbst dann einstehen, wenn sie ihr widersprechen. Oder reagiert ein Publikum lebendig dadurch, daß es bei tiefem Mißfallen buht, bei höchstem Gefallen aber bravo schreit und wild klatscht?

Buhen gehört zum Lebensrisiko der Kulturschaffenden

Eines ist schwerlich wegzudisputieren: Da, wo die Sonne spontanen Beifalls scheinen kann, muß auch die Nacht spontaner Mißfallenskundgabe drohen dürfen. Die Theateröffentlichkeit untersteht noch keiner Fachmannsdiktatur - der Erregte, "Buhende", Pfeifende muß sich genau so irren können wie der zufrieden Klatschende, den ohnehin niemand fragt, warum er klatscht. Der Nachweis, daß "Buher" unverständig oder sogar boshaft waren, ändert nichts. Es ist sogar fraglich, ob ein Buhen, das immer wieder einer bestimmten Künstlerpersönlichkeit gilt, schon den verwerflichen Tatbestand der Lärmdiktätur erfüllt: Das Publikum muß bekunden dürfen, daß es an Karajan oder Knappertsbusch hängt (da buht niemand, weder von vornherein noch hinterher) und an den Herren X oder gar Y eben nicht. Das gehört zum Lebensrisiko jener öffentlichen Berufe, für die sich die Herren X und Y entschieden. Und, was besagt schon ein Beifall, der sich nicht auf der Folie möglichen Protestes erhebt?

Mit anderen Worten: Wo eine große Öffentlichkeit in nicht mehr intimen Rahmen zusammentritt, da herrscht ebenso die ärgerliche, von keiner Sachkunde und keiner ästhetischen Empfindlichkeit getrübte Freiheit, nach der Ouvertüre in den Opernbeginn hineinzuklatschen, die Nachspiele zu Tode zu jubeln - wie jene andere Freiheit, Mißfallen auszudrücken, wenn der Akt oder das Werk vorbei ist. Mißfallsbekundungen jedoch, die in das Werk hineinprasseln, werden sich praktisch zwar kaum verhindern lassen - sind gleichwohl ruhestörender Lärm. Der Intendant kann da von seinem Hausrecht Gebrauch machen, auf das er sich nicht berufen sollte, wenn nachträglicher Protest ertönt.

Das Publikum ist also mündig, auch wenn es irrt, Unbildung verrät, falsche Lieblinge und falsche Opfer wählt. Erniedrigt es das Opernhaus zum Fußballstadion oder zum Jazzkeller, wenn es von seiner Freiheit zu pfeifen gegen die Sitte Gebrauch macht? Der Vergleich mit Fußball und Jazz macht nachdenklich. Ganz offenbar haben doch Sport und Jazz das sachkundigste, "engagierteste" Publikum. Doch davon ganz abgesehen, wird das Theater wirklich "entwürdigt", wenn Buher buhen?

1964: Blieb der SZ Jahrzehnte treu: Joachim Kaiser 2003 auf der Feier seines 75. Geburtstages mit Verlegerin Anneliese Friedmann.

Blieb der SZ Jahrzehnte treu: Joachim Kaiser 2003 auf der Feier seines 75. Geburtstages mit Verlegerin Anneliese Friedmann.

(Foto: Catherina Hess)

Schon wieder müssen wir unterscheiden: Nach einem Kammermusikabend, vor 200 Menschen, wird so leicht niemand auf die Idee kommen, durchdringend zu pfeifen oder gellend zu buhen. Doch eine glänzende Anouilh-Inszenierung, ein Lohengrin und eine Zauberflöte vor je anderthalbtausend Menschen: Da muß das kompakte Publikum sich notfalls auch kompakt äußern dürfen.

Nur eine Buhdiktatur (verabredetes Zischen) soll es nicht geben. Bei der Münchner Festspiel-"Zauberflöte" waren möglicherweise einige Demonstrationen verabredet - sie sind verwerflich.

Unbefangene Buher sind wie negative Liebhaber

Andere waren es nicht: Die müssen ertragen werden. Und so wie Siegfried Jacobsohn anläßlich einer Eulenberg-Premiere bei Brahm fand, Rowdys, die verhindern, daß ein Publikum den Text überhaupt versteht, sollten bestraft werden können, so müssen unsere Künstler, die doch gegenüber Kritiken ein dickes Fell haben, damit zu rechnen lernen, daß das Publikum sein Mißfallen äußert, selbst über etwaige "schlechte Tagesform". Unbefangene Buher sind doch negative Liebhaber - die kommen bestimmt das nächste Mal wieder und klatschen, daß die Kronleuchter zittern. Als Arnold Schönberg seine Neue Musik durchsetzen wollte, verbot er bei Privataufführungen jegliche Äußerung.

Skandale sollten nicht von Werken ablenken. Unsere Opern- und Schauspielkultur bedarf solcher schonenden Brutkästen jedoch am wenigsten, sie kann leben in und von der rauhen Luft direkter Meinungsäußerung. Wenn erst ein Zischer keine Sensation mehr ist und ein Buher kein Weltuntergang, dann sind die Theater der viel ärgeren Gefahr entronnen, zum religionslosen Tempel gutgekleideter Unverbindlichkeit zu erstarren.

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