Arbeitsrecht:Zeiterfassung: Was der Beschluss für Arbeitnehmer bedeutet

Kommt nun die Stechuhr für alle Arbeitnehmer? Das Bundesarbeitsgericht setzt die Bundesregierung unter erheblichen Druck.

Von Benedikt Peters

Der Name Inken Gallner ist einer breiten Öffentlichkeit eher unbekannt. Vermutlich wird das auch in Zukunft so bleiben, schließlich folgt nicht jeder den arbeitsrechtlichen Debatten in Deutschland. Und doch hat Gallner nun eine Entscheidung gefällt, die sehr weitreichende Folgen hat - sie könnte sich auf nahezu alle 41 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland auszuwirken.

Gallner, eine Juristin und überzeugte Europäerin, ist seit Anfang des Jahres Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Am Dienstagnachmittag verkündete sie einen Grundsatzbeschluss, deren Kernsatz lautet: "Der Arbeitgeber ist (...) verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann." Dieser Beschluss war nicht erwartet worden, da es in dem konkreten Verfahren eigentlich um die Befugnisse von Betriebsräten ging.

Es ist ein Beschluss, der nahezu alle überrascht hat: Arbeitsrechtler, Arbeitgeber und Beschäftigte, ganz besonders auch die Bundesregierung. Dabei übernahm Gallner, vereinfacht gesagt, nur das, was der Europäische Gerichtshof schon im Mai 2019 entschieden hatte: Die Mitgliedsstaaten müssen die Arbeitgeber verpflichten, ein "objektives, verlässliches und zugängliches" Arbeitszeiterfassungssystem einzurichten. Nur so könnten die Rechte aus der EU-Arbeitszeitrichtlinie umgesetzt werden, also die wöchentliche Höchstarbeitszeit sowie Ruhezeiten.

In Deutschland gab es bis dato keine verpflichtende Arbeitszeiterfassung, nur Mehrarbeit und Arbeit an Sonn- und Feiertagen muss dokumentiert werden. Deshalb hätte die Bundesregierung die Vorgabe aus Europa eigentlich schnell umsetzen müssen. Doch sie ließ sich Zeit. Im Koalitionsvertrag steht lediglich, der "Anpassungsbedarf" werde geprüft. Ein Vorstoß von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD), der sich allerdings nur auf ausgewählte Branchen bezog, war am Widerstand der FDP gescheitert.

Nun sind viele Fragen offen. Das Bundesarbeitsgericht hat der Zeiterfassungspflicht zwar Nachdruck verliehen, qua seiner Autorität als oberster Instanz der Arbeitsgerichtsbarkeit werden die Arbeitgeber daran kaum vorbeikommen. Es fehlen aber Gesetze, die regeln, wie genau diese Pflicht aussehen soll. Die Frage ist zum Beispiel, wie Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit dokumentieren sollen. In elektronischer Form? Mit Stift und Papier? Und wann beginnt eigentlich die Arbeitszeit - vielleicht schon dann, wenn man den Dienst-Laptop hochfährt und sich einloggt? Ebenso offen ist, wie die Erfassung kontrolliert werden soll und welche Sanktionen es bei Verstößen gibt. Der Rechtswissenschaftler Frank Bayreuther von der Universität Passau sagt dazu der SZ, er bezweifle, dass die Arbeitsschutzbehörden auf Grundlage der BAG-Entscheidung tätig werden könnten. "Der Gesetzgeber ist aufgefordert, das genau zu regeln."

Nicht alle Arbeitnehmer dürften sich freuen

Ähnlich groß wie die Unsicherheit ist der Ärger bei den Arbeitgebern. "Damit werden Beschäftigte und Unternehmen ohne gesetzliche Konkretisierung überfordert", sagt Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Arbeitgebervereinigung BDA. Der Beschluss sei "nicht durchdacht". In gewerkschaftlichen Kreisen wird er deutlich positiver gesehen. "Diese Feststellung ist lange überfällig", sagt Anja Piel, sie ist Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds. "Die Arbeitszeiten der Beschäftigten ufern immer mehr aus, die Zahl der geleisteten Überstunden bleibt seit Jahren auf besorgniserregend hohem Niveau." Auch Verdi sieht die Entscheidung positiv. Damit würden Schlupflöcher geschlossen, sagt die stellvertretende Chefin Andrea Kocsis.

Trotzdem dürften sich nun nicht alle Arbeitnehmer freuen: In Kreativbranchen etwa arbeiten viele Menschen flexibel, mal an einem Tag zwölf Stunden, dafür an einem anderen Tag vier. Käme die verpflichtende Arbeitszeiterfassung für ausnahmslos alle Angestellten, dann ließen sich solche Vertrauensarbeitszeitmodelle kaum aufrechterhalten, da sie Höchstgrenzen verletzen würden. Das Bundesarbeitsministerium ist nun dazu aufgerufen, Klarheit zu schaffen. Eine Sprecherin teilt mit, an einem entsprechenden Gesetzesentwurf werde schon gearbeitet.

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