1994:Asylrecht als Rechtsattrappe

1994: Berlin-Lichtenberg 1992: Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien, die in Deutschland aufgenommen werden. Ein Jahr später wird das Grundrecht auf Asyl massiv eingeschränkt.

Berlin-Lichtenberg 1992: Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien, die in Deutschland aufgenommen werden. Ein Jahr später wird das Grundrecht auf Asyl massiv eingeschränkt.

(Foto: Bernd Friedel/imago)

Deutschland schiebt Flüchtlinge ab und wäscht sich die Hände in Unschuld. Das neue Asylrecht hat Innenpolitiker blind und die Abschiebebehörden taub gemacht.

Von Heribert Prantl

Anfang der 1990er-Jahre flüchten immer mehr Menschen nach Deutschland, unter anderem aus dem zerbrechenden Jugoslawien. 1993 beschließen die Regierungsparteien CDU, CSU und FDP gemeinsam mit der oppositionellen SPD eine Änderung des Grundgesetzes: Wer aus einem sicheren Drittstaat einreist, kann sich in Deutschland nicht mehr auf das Grundrecht auf Asyl berufen. Ein Jahr darauf schreibt der spätere SZ-Innenpolitikchef Heribert Prantl diesen Leitartikel über Folgen dieses Beschlusses: "Es gibt keinen Konsens mehr darüber, daß Verfolgte Schutz und Hilfe verdienen."

Ein Jahr neues Asylrecht. Zwei Drittel weniger Asylbewerber. Überfremdung gestoppt. Gemeinden entlastet. Thema abgehakt. Den Republikanern ein Thema genommen. Beifall, Herr Kanther.

Wer nur auf die Zahlen schaut, mag applaudieren. Wer das will, der darf nicht in die Abschiebegefängnisse schauen, in denen blanke Verzweiflung herrscht; er darf nicht an die Flüchtlinge denken, die sich dort erhängt haben; sie haben sich lieber selbst umgebracht, als zwangsweise wieder in das Land verbracht zu werden, aus dem sie geflohen waren. Die Haftbedingungen in den Abschiebehafthäusern der Republik wurden im letzten Jahr ständig verschärft, Flüchtlinge sind dort wie Kriminelle inhaftiert, oft monatelang.

Wer dem neuen deutschen Asylrecht applaudieren will, der darf nicht die Bescheide lesen, die vom zuständigen Bundesamt gegen Flüchtlinge erlassen werden. Sie sind so schlampig, wie die Entscheidungen kaum einer anderen Behörde in Deutschland. In dieser Schludrigkeit widerspiegelt sich die grundgesetzlich verordnete Geringschätzung des Asyls, die Gleichgültigkeit menschlichen Schicksalen gegenüber. Es soll schnell gehen, um jeden Preis - um den Preis der Sorgfalt, auch um den Preis der Menschlichkeit. Das Kalkül dabei: Dieses Verfahren soll abschreckend sein, so abschreckend, daß Flüchtlinge auf den Versuch, es doch zu probieren, gleich ganz verzichten.

Deutschland handelt wie Pontius Pilatus: Man schiebt ab und wäscht sich die Hände in Unschuld

Das neue Asylrecht fragt überhaupt nicht mehr nach Verfolgung, es fragt nur noch nach dem Weg, auf welchem der Flüchtling nach Deutschland gekommen ist. Er wird nämlich wieder auf den Weg zurückgeschickt, auf dem er gekommen ist: Ab mit ihm über die Grenze, am besten stante pede, ohne Anhörung, ab nach Österreich, nach Polen, nach Tschechien - die dort sollen schauen, was sie mit ihm machen. Deutschland handelt wie Pontius Pilatus: Man schiebt ab und wäscht sich die Hände in Unschuld. Die Nachbarstaaten seien doch auch, so rechtfertigt man sich, Mitglieder der Genfer Flüchtlingskonvention; die würden die Flüchtlinge schon irgendwie ordentlich behandeln. Die Nachbarstaaten aber denken genauso, und sie schicken die Flüchtlinge wiederum weiter - und so weiter und so weiter. Und der Flüchtling landet wieder dort, wo er hergekommen ist, im Land der Verfolgung.

Gut 9000 Flüchtlinge haben im Mai 1994 versucht - dem neuen Asylrecht zum Trotz - Asyl in Deutschland zu erhalten: Die Abschottung funktioniert in der Praxis also noch nicht ganz so gut, wie man es sich in der Theorie bei der Formulierung des neuen Asylrechts vorgestellt hatte. Deshalb sollen, nach den Vorstellungen der Union, Soldaten an die Ostgrenzen; Flüchtlinge müssen, wo Paragraphen nicht reichen, mit dem Gewehr abgewehrt werden.

Das also ist das neue Asylrecht: Wer es bejubeln will, der mag bei der UN-Flüchtlingskommissarin nachfragen, was dieses deutsche Modell ausgelöst hat: Es ist ein Exportschlager, es wird von den anderen europäischen Staaten nachgeahmt. Überall in Europa heißt es jetzt 'Asyl ja, aber nicht bei uns!' Und das bedeutet: Der Flüchtlingsschutz, wie er in den Jahrzehnten seit dem 2. Weltkrieg aufgebaut worden ist, bricht zusammen. Es gibt keinen Konsens mehr darüber, daß Verfolgte Schutz und Hilfe verdienen. Es gibt nur noch den Konsens darüber, die Grenzen möglichst dicht zu machen. Das Verbot, Flüchtlinge zurück in die Gefahr zu schicken, verliert an Kraft. Deshalb sinken zwar die Asylbewerberzahlen in Deutschland, die Fluchtursachen aber bleiben. Sie sind noch weiter aus dem Blick gerückt als zuvor. So fördert das neue Asylrecht die Illusion: Die Armut bleibt draußen, und der Wohlstand bleibt drinnen.

Die Kirchen flehen - vergebens

Das neue deutsche Asylrecht hat nicht nur die Grenzen dicht, es hat auch die Innenpolitiker blind und die Abschiebebehörden taub gemacht. Seit Monaten flehen die katholische und die evangelische Kirche um Menschlichkeit für die Albaner aus dem Kosovo, für die Christen aus der Türkei und für die armenischen Christen. Sie flehen vergebens. Die Abschiebungsmaschinerie läuft. Solange es nur Pro Asyl und Amnesty International waren, die klagen und warnten, haben die zuständigen Stellen süffisant von 'interessierten Kreisen' gesprochen und sie als notorische Schwarzmaler und Spinner disqualifiziert. Um deren Proteste hat man sich nicht viel gekümmert. Jetzt gilt dies auch für die Proteste der Kirchen. Ziemlich unverhohlen drohen die Behörden den Kirchengemeinden, sie stellten sich durch die Aufnahme von Flüchtlingen gegen die staatliche Ordnung. Zum erstenmal seit Gründung der Bundesrepublik bahnt sich ein echter Konflikt zwischen Kirche und Staat an. Auch dies ist ein Erfolg des neuen Asylrechts.

Wenn Recht zum Unrecht wird, ist Kirchenasyl Pflicht: Immer mehr Pfarreien versuchen, den Flüchtlingen das zu geben, was der Staat ihnen verweigert: Schutz und Hilfe in lebensbedrohlicher Situation. Die Christen appellieren an das Gewissen eines Rechtsstaates, der in seinem Grundgesetz das Grundrecht auf Menschenwürde über alle anderen Rechte gestellt hat. Vor einem Jahr hat die deutsche Politik dieses Gewissen für einen Tag abgestellt, um das Grundgesetz zu ändern: Am 26. Mai 1993 wurde im Bundestag der bisherige Artikel 16 Absatz 2 Grundgesetz gestrichen, und statt dessen ein neuer Asylartikel 16 a gesetzt - der nicht mehr ist, als eine Rechtsattrappe. Seit einem Jahr ist dieser Zustand Gesetz. Wer Bravo rufen will, der soll es tun.

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