Personalmangel in der Sozialen Arbeit:"Der Kollaps steht kurz bevor"

Personalmangel in der Sozialen Arbeit: In den Sozialbürgerhäusern sind viele Stellen unbesetzt, weil Fachkräfte fehlen.

In den Sozialbürgerhäusern sind viele Stellen unbesetzt, weil Fachkräfte fehlen.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Wegen des Fachkräftemangels sind viele Stellen in der städtischen Sozialarbeit nicht besetzt. Gleichzeitig steigt der Bedarf an Unterstützung durch Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg und Energiekrise massiv. Gewerkschaft und Sozialreferat warnen vor den Folgen.

Von Sven Loerzer

Wie dringend Kinderbetreuungseinrichtungen Erzieherinnen und Erzieher und Altenheime Pflegekräfte suchen, ist längst allgemein bekannt. Dass aber der Fachkräftemangel im Bereich der Sozialarbeit nicht minder groß ist und damit existenzielle Hilfen für Menschen in schwierigen Lebenssituationen gefährdet, davon nimmt die Öffentlichkeit bisher kaum Notiz. "Der Kollaps steht kurz bevor", sagt Grit Richling, Sprecherin der Verdi-Betriebsgruppe im Sozialreferat. Und ihr Sprecherkollege Philipp Heinze warnt: "Wir stehen als Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen mitten in den gesellschaftlichen Auswirkungen von Corona, Flüchtlingshilfe und Inflation selber völlig instabil da."

Im Geschäftsbericht des Sozialreferats für das vergangene Jahr ist festgehalten, dass die unter anderem für Familien mit Kindern zuständige Bezirkssozialarbeit (BSA) für die Altersgruppe 0 bis 59 Jahre in den meisten Sozialbürgerhäusern nur mit reduzierten Personalkapazitäten arbeiten konnte. "Die Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiter*innen der Bezirkssozialarbeit lag insgesamt bei rund 80 Prozent."

Zum Stand Ende August sind nach Angaben des Sozialreferats von 443 Vollzeitstellen in der BSA 346 besetzt gewesen, also rund 78 Prozent. Im hausweiten Vergleich sei die Besetzungsquote sehr gut, sagt Sozialreferentin Dorothee Schiwy, die Bezirkssozialarbeit sei als bürgernahe Dienstleistung vom stadtweiten Stellenbesetzungsstopp ausgenommen gewesen. "Die gefühlte Belastung für die Kolleginnen und Kollegen" sei aber "wahnsinnig hoch, weil sie von einer Katastrophe in die andere fallen".

Allein schon die Corona-Pandemie hat zu einer höheren Arbeitsbelastung geführt, wie aus dem Geschäftsbericht hervorgeht. So sei die Summe der Bestandsfälle in allen Kinderschutzmaßnahmen im Jahresvergleich von 205 auf 283 gestiegen. Zudem ist auch die Zahl der Meldungen, bei denen die Fachkräfte einschätzen müssen, ob das Kindeswohl gefährdet ist, von 531 auf 573 angestiegen. Bei den Hilfen zur Erziehung zeigt der Trend ebenfalls nach oben. Die Zahl der Bestandsfälle erhöhte sich von 3578 auf 3656. Außerdem hätten sich die Problemlagen verschärft, der Lockdown habe obendrein die Arbeit erschwert.

"Wir werden nicht alle Aufgaben lösen können."

In diesem Jahr sind die Folgen des Krieges in der Ukraine zu bewältigen, viele Geflüchtete seien traumatisiert oder krank. Wenn etwa sieben oder acht Kinder einer Mutter, die unter Tuberkulose leidet, in Obhut genommen werden müssen, dann ist das wegen der benötigten Plätze keine einfache Aufgabe. "Auch die Energiekrise wird gigantische Auswirkungen haben auf die soziale Landschaft", befürchtet Schiwy. "Es macht mir große Sorgen, wenn die Menschen die Energiekosten nicht mehr bezahlen können." Da wird wieder die Bezirkssozialarbeit gefragt sein und wohl Prioritäten setzen müssen: "Wir werden nicht alle Aufgaben lösen können."

Auf die starke Belastung in der Bezirkssozialarbeit, die Menschen in schwierigen Lebenssituationen unterstützt und ihnen geeignete Hilfen vermittelt, hat Sozialreferentin Dorothee Schiwy bereits im Mai hingewiesen. Die Personalsituation in den Sozialbürgerhäusern stelle sich zunehmend prekärer dar, schilderte Schiwy die Lage, "auch hier häufen sich Krankmeldungen und Personalausfälle". Die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich wegbewerben oder gar kündigen, nehme zu.

"Wir bräuchten einfach mehr Leute", klagt eine Mitarbeiterin. Sich Zeit zu nehmen für eine Beratung in Ruhe, tiefer einzusteigen, sei oft nicht mehr möglich. "Man druckt eine Information aus und schickt Ratsuchende schnell weg", zumal dann, wenn auch noch Kinderschutzfälle anstehen. "Ich muss ja in die Familie reingehen, um zu schauen, was los ist, auch wenn die Meldung vielleicht von einem Nachbarn stammt, der sich nur in seiner Ruhe gestört fühlt." Die steigende Belastung ist schon seit Jahren Thema. Ende 2016 gab es bereits ein Fachgespräch dazu. Doch seitdem hat sich die Situation weiter zugespitzt, nicht nur in München.

Es gibt nicht genug Studienplätze, um den Bedarf zu decken

"Die Taktung ist viel enger geworden", erzählt eine Sozialpädagogin. "Die Belastung hatte früher einzelne Spitzen, jetzt ist sie durchgehend hoch." In Krisenfällen seien die Familien "auf uns angewiesen, aber wir auch auf die Schutzstellen, wo Kinder und Jugendliche kurzfristig untergebracht werden, wenn eine Inobhutnahme notwendig ist". Doch immer häufiger steht in der Übersicht für freie Plätze bei Münchner Schutzstellen eine Null. Dann muss oft weit außerhalb versucht werden, einen Platz zu finden, doch die Situation ist bundesweit angespannt. Dringend müsste die Jugendhilfe ausgebaut werden, doch auch dort macht sich der Fachkräftemangel bemerkbar.

So hat das Institut der Deutschen Wirtschaft vor Kurzem berichtet, dass in der Berufsgruppe der Sozialarbeit und Sozialpädagogik im Jahresdurchschnitt 2021/22 die größte Fachkraftlücke klafft und nennt das einen traurigen Rekord: "Von den bundesweit knapp 26 500 offenen Stellen gab es für knapp 20 600 keine passend qualifizierten Arbeitslosen - so groß war der Mangel nie zuvor." Überall dort, wo Menschen persönliche Begleitung für die Lösung sozialer Probleme benötigen, fehlten Fachkräfte. Fast genauso groß war die Lücke bei der Kinderbetreuung und -erziehung, gefolgt von der Altenpflege.

"Der bundesweite Fachkräftemangel war völlig erwartbar", sagt Philipp Heinze. Soziale Arbeit sei immer noch ein beliebter Studiengang. Allerdings gebe es nicht genügend Studienplätze in München, um den Bedarf zu decken. Der Staat müsse mehr Studienplätze schaffen. Auch die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung müssten besser werden, damit die Fluktuation abnimmt. Viele wechseln die Stelle, sagt Grit Richling, "weil sie den Anspruch an soziale Arbeit nicht runterschrauben wollen".

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