Ein Blick in die Archive: SZ-Serie:Ein Vorbild historischer Arbeit

Ein Blick in die Archive: SZ-Serie: Seit mehr als 20 Jahren kümmert sich Dieter Hess als Ehrenamtlicher mit großer Leidenschaft um das Türkenfelder Archiv.

Seit mehr als 20 Jahren kümmert sich Dieter Hess als Ehrenamtlicher mit großer Leidenschaft um das Türkenfelder Archiv.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Das Archiv in der kleinen Gemeinde Türkenfeld ist so gut geführt wie wohl nur wenige. Das liegt an der großen Leidenschaft, mit der Dieter Hess sein Ehrenamt betreibt.

Von Gerhard Eisenkolb, Türkenfeld

"Unsere bayerischen Stammeltern lebten einst im heutigen Frankreich, und kamen, gleich anderen deutschen Völkern, ursprünglich aus Asien." Dieses aus heutiger Perspektive überholte "Wissen" wurde Kindern um 1830 an der Türkenfelder Schule gelehrt. Aufgeschrieben hatte der damalige Dorflehrer Alois Lohmüller solche Texte auf große, handgeschöpfte Papierbögen in aus der Ferne zu entziffernden Großbuchstaben. Was ein gewisses pädagogisches Geschick des von 1825 bis 1878 in Türkenfeld tätigen Erziehers erkennen lässt. Im Gemeindearchiv wird ein Bündel solcher Lehrmittel verwahrt.

Ein Blick in die Archive: SZ-Serie: Der damalige Dorflehrer Alois Lohmüller hat 1830 große Texttafeln geschrieben, die die Schüler auch aus der Ferne lesen konnten.

Der damalige Dorflehrer Alois Lohmüller hat 1830 große Texttafeln geschrieben, die die Schüler auch aus der Ferne lesen konnten.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Für den ehrenamtlichen Archivar Dieter Hess sind diese Bögen Vorläufer unserer Flipcharts. In der 1273 Jahre alten Gemeinde muss das Geschichtsbewusstsein groß sein. Sonst hätte sich hier nicht erhalten, was anderswo im Müll landete. Das Archiv ist in Kellerräumen des neuen Kindergartens untergebracht. Was ein schönes Bild dafür ist, wie nahe Vergangenheit und Zukunft eines Orts bei einander liegen können. Unterlagen aus der Schulgeschichte füllen mehrere Regalmeter. Anhand dieses Materials kann Hess Grundschülern veranschaulichen, wie ihre Urgroßeltern Schönschreiben lernten oder welchen Prüfungstext 1881 der Drittklässler Johann Knoller schrieb. Johann notierte mit Eisengallus-Tinte Lebensweisheiten wie diese: "Wer den Acker pflegt, den pflegt der Acker. Alte soll man ehren, Jüngere soll man lehren, Weise soll man fragen, Narren ertragen."

Ein Blick in die Archive: SZ-Serie: Der Prüfungstext des Drittklässlers Johann Knoller im Schönschreiben aus dem Jahr 1881.

Der Prüfungstext des Drittklässlers Johann Knoller im Schönschreiben aus dem Jahr 1881.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Wie Hess schmunzelnd erzählt, staunen Kinder bei Archivführungen regelmäßig darüber, wie schön ihre Urgroßeltern schrieben. Mit Liebe zum Detail geht er auf die Papierherstellung, Materialien oder Tinten ein. Es fasziniert ihn, dass sich die gleichen Familiennamen über Jahrhunderte wie ein roter Faden durch viele der Unterlagen ziehen. Die Bezüge zur heutigen Zeit sind ihm wichtig. Ergibt sich doch hieraus die Kontinuität der Ortsgeschichte als Geschichte der hier lebenden Menschen.

Ein Blick in die Archive: SZ-Serie: In sechs Kästchen hat der Archivar 2000 Sterbebilder aus Türkenfeld gesammelt.

In sechs Kästchen hat der Archivar 2000 Sterbebilder aus Türkenfeld gesammelt.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Angesichts der Karteikästen mit etwa 2000 nach Namen geordneten Sterbebildern leuchten die Bezüge zu den hier Lebenden ein. Ins Grübeln kommt man, weil das auch auf die annähernd 30 000 Fotos und Dokumente zutreffen soll, die Hess mit Angaben zum Inhalt und zu Personen bisher digitalisierte. Spuren zu Vorfahren so mancher Familie, die heute in Türkenfeld lebt, finden sich seit Jahrhunderten. Das älteste schriftliche Dokument ist ein Salbuch von 1515. Dessen mit Fett gegerbtem, abgegriffenem gelbbraunem Pergamenteinband ist anzusehen, dass es durch viele Hände ging. In solchen Salbüchern oder Güterverzeichnissen wurde notiert, was welcher Untertan oder Bauernhof dem Grundherrn an Zahlungen, Naturalien oder Hand- und Spanndiensten zu leisten hatte. Erhalten haben sich auch zwei "Aufschreibebücher" des Ignatius Widmann. In diesen Heften vermerkte der Türkenfelder während seines Militärdienstes, wem er wann wieviel Geld lieh.

Ein Blick in die Archive: SZ-Serie: Das Salbuch aus dem Jahr 1515 gehört zu den ältesten Dokumenten im Türkenfelder Archiv.

Das Salbuch aus dem Jahr 1515 gehört zu den ältesten Dokumenten im Türkenfelder Archiv.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Als Beispiel für die Bauernbefreiung von der Grundherrschaft präsentiert Hess eine im Namen des Königs von Bayern am 21. Mai 1840 ausgestellte Urkunde samt dem in einer Holzkapsel aufbewahrten Wachssiegel. Mit dem Blatt bestätigte die Finanzkammer, dass der Wirt Georg Probst aus Türkenfeld die Verpflichtung zu Handlohn und zu anderen Grundabgaben mit einer Zahlung ablöste.

Ein Blick in die Archive: SZ-Serie: Eine Urkunde aus dem Jahr 1840 dokumentiert eine Bauerbefreiung im Namen des Königs.

Eine Urkunde aus dem Jahr 1840 dokumentiert eine Bauerbefreiung im Namen des Königs.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Wie eine Verschlusssache behandelt der Archivar Namenslisten der NSDAP-Mitglieder der Gemeinde mit Datum des Parteieintritts. Das ist sein Giftschrank. Dank glücklicher Umstände hat sich aus der Zeit des Nationalsozialismus vieles erhalten. Anderswo wurden solche Papiere beim Untergang des Dritten Reiches entsorgt, um Spuren einer Vergangenheit zu beseitigen, mit der man nicht in Verbindung gebracht werden wollte. Die Namen aller Türkenfelder mit ihrem Fingerabdruck tauchen 1946 auf den vollständig erhaltenen Registrierungskarten der amerikanischen Militärregierung auf.

Ein Blick in die Archive: SZ-Serie: Im Archiv finden sich die Registrierungskarten aller Einwohner, die die amerikanische Militärregierung erstellt hat.

Im Archiv finden sich die Registrierungskarten aller Einwohner, die die amerikanische Militärregierung erstellt hat.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Bei Recherchen zur NS-Zeit entdeckte Hess, dass es in der Gemeinde 1944 sogar ein Außenlager für etwa 600 KZ-Häftlinge gab, die Wohnungen für Eisenbahner und deren Angehörige bauen sollten. Wären die Plänen umgesetzt worden, wäre der Ort durch die Verlegung von Abteilungen der Reichsbahn um 6000 Einwohner gewachsen. Als Beleg für die Existenz des KZ-Außenlagers von Kaufering präsentiert der Archivar ein Luftbild der Alliierten.

Dem 68-Jährigen wurde die Betreuung des Archivs vom Bürgermeister nach der 1250-Jahrfeier angetragen, zu der er 1999 eine Bilderausstellung beisteuerte. Der ehemalige Siemens-Nachrichtentechniker, der später als technischer Redakteur die Herstellung von Handbüchern für Firmen wie MAN oder KUKA verantwortete, fand auf diese Weise eine Lebensaufgabe. Er ließ sich überreden, obwohl ihm als Schüler das Fach Geschichte verhasst war. Nun gibt er als Rentner Volkshochschulkurse über das Archivwesen und vermittelt Schulkindern Heimatkunde.

Ein Blick in die Archive: SZ-Serie: Für die Reinigung verschmutzter Dokumente hat Hess einen eigenen Arbeitsplatz eingerichtet.

Für die Reinigung verschmutzter Dokumente hat Hess einen eigenen Arbeitsplatz eingerichtet.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Seit mehr als zwanzig Jahren treibt es ihn um, Archivalien zu sichern und in einem klimatisierten Raum ohne Plastik oder Metall so aufzubewahren, dass sie keinen Schaden nehmen. Er ordnet und erfasst Akten, Fotos und Zeitungsausschnitte mit der Gründlichkeit des ehemaligen Technikers. Zum Säubern verschmutzter Dokumente richtete er einen eigenen Arbeitsplatz ein. Daneben bindet er mit Metall geheftete Akten wie ein Buchbinder mit Fäden neu zusammen. Als eifriger Besucher von Fortbildungskursen für ehrenamtliche Archivare im Hauptstaatsarchiv oder anderen Orten eignete er sich solche Techniken an. Den Großteil der elektronischen Geräte wie einen Kamerascanner für Bücher und Spezialdrucker, mit denen er daheim Archivarbeiten erledigt, bezahlte er aus eigener Tasche.

Ein Blick in die Archive: SZ-Serie: Auch Objekte wie alte Flaschen mit Limonade aus Türkenfeld gehören zu den Archivalien.

Auch Objekte wie alte Flaschen mit Limonade aus Türkenfeld gehören zu den Archivalien.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Türkenfeld hat die ältesten Urkunden aller Landkreiskommunen. Das verdankt Hess einem Pfarrer, der ihm 20 Kartons aus dem Pfarrhaus mit Büchern und Unterlagen aus dem Privatbesitz seiner Vorgänger überließ, während die Kirchenbücher pflichtgemäß im Archiv der Diözese aufbewahrt werden. So kam die Gemeinde an ein 180 Jahre altes "Verkündbuch", in dem all die Informationen festgehalten sind, die der Pfarrer verkündete. Also das, was nicht zur Predigt gehörte. Aus der Bibliothek eines der Dorfpfarrer stammt auch eine andere Rarität, das 1738 erschienene und mit vielen Stichen illustrierte Buch "Japonesische Reise" zur Japanreise des Jesuiten Joanne Crasset. Die ältesten Besitztümer aus der Römerzeit lagern in Kisten. Das sind Bruchstücke von Dachziegeln und römischen Fußbodenheizungen aus Ton.

"In einem Archiv hängt alles an der Person, die es betreut", stellt Hesse fest. Hier schwingen zwei Aspekte mit: Freude über die anspruchsvolle, fordernde Arbeit und das bisher Geleistete, aber auch das Wissen um das, was noch zu erledigen ist. Dazu gehört eine ganze Regalwand mit seinen "Verdruss-Ordnern". Dort stecken in schädlichen Plastikhüllen die noch nicht systematisch erfassten und später in speziellen Archivkartons geschützt zu verwahrenden Dokumente.

Nach Terminvereinbarung über die Gemeindeverwaltung (Telefonnummer: 08193/93070) hilft der Archivar gerne bei der Suche nach historischen Hausnamen oder anderen Recherchen.

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