Psychologie:Warum wir milder urteilen, wenn Menschen in Gruppen Unrecht begehen

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Am Ende entscheiden oft juristische Feinheiten darüber, wie ein Urteil ausfällt, ob etwa ein versuchter Totschlag vorliegt oder "nur" eine gefährliche Körperverletzung. Tödlich kann potenziell beides enden. (Foto: Volker Hartmann/dpa)

Geteilte Schuld, halbe Schuld? Forscher der Münchner LMU haben herausgefunden, dass viele Menschen Einzeltäter für das gleiche Vergehen härter bestrafen würden als Gruppen - mit einer bemerkenswerten Ausnahme.

Von Bernd Kramer

Angenommen, eine junge Frau geht mit ihrer Freundin klettern. Sie legen die Gurte an, doch der Gurt der völlig unerfahrenen Freundin hat einen Defekt. Die Schnalle klickt nicht beim Schließen, was der Frau als Kletterexpertin sofort auffällt. Doch sie sagt kein Wort, keine Warnung, obwohl sie selbstverständlich genau ahnt, was nun passieren wird. Und so kommt es, die Freundin stürzt in den Tod. Ein klarer Fall: Die Frau trägt eine Schuld am Tod der Freundin.

Angenommen, die Frau war nicht allein mit der Freundin unterwegs, man ging gemeinsam in der Gruppe zum Klettern. Und alle hörten, dass der Gurt nicht richtig einrastet, alle wussten, was das bedeutet, und alle schwiegen mit voller Absicht. Wäre die Frau dann weniger schuld? Das moralische Bauchgefühl würde vehement verneinen. Für die Verwerflichkeit eines Vergehens dürfte es egal sein, ob man es allein oder mit anderen zusammen begeht. Tatsächlich aber unterliegen viele Menschen der unbewussten Tendenz, die Missetaten anderer milder zu betrachten, wenn die sie als Teil einer Gruppe begangen haben. Selbst Gerichte tappen in die Falle: Als zwei US-Psychologen Ende der 70er-Jahre Urteile zu Raubüberfällen auswerteten, stellten sie fest, dass Einzeltäter im Schnitt die längeren Gefängnisstrafen zu erwarten hatten - bei vergleichbaren Delikten. Gerecht ist das nicht.

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Bloß warum neigt man bei Gruppen zu gnädigeren Urteilen? Ein Team um die Neurowissenschaftlerin Anita Keshmirian von der Ludwig-Maximilians-Universität in München hat unlängst erste Antworten im Fachjournal Scientific Reports veröffentlicht. Die Münchner Forscherinnen und Forscher legten dafür rund 1000 Befragten Szenarien vor wie etwa jenen Kletterausflug - Kriminalfälle, bei denen entscheidende Details immer wieder variiert waren. Mal vernahm die Frau, dass der Gurt nicht funktionierte, mal nicht. Mal war böser Wille im Spiel, mal bloß Nachlässigkeit. Mal starb die Freundin, mal passierte wie durch ein Wunder nichts. Und natürlich: Mal war die Frau alleine mit dem potenziellen Opfer auf dem Ausflug, mal mit anderen zusammen.

Fast immer würden die Befragten die Frau milder bestrafen, wenn sie als Teil einer Gruppe gehandelt hat. Ob Fahrlässigkeit oder Vorsatz: In beiden Konstellationen gewähren die richtenden Probanden einen Gemeinschaftsrabatt. Nur in einem Fall würden sie die Gruppendeliquentin genauso hart belangen wie die Einzeltäterin: wenn sie die Freundin wissentlich ins Verderben schickt - der am Ende aber gar nichts passiert. Anders gesagt: Bei Mord neigen Menschen zu großzügigeren Urteilen bei Tätergruppen, bei bloß versuchtem Mord nicht. Wir teilen die Verantwortung für das Ergebnis, aber nicht die für die Absicht. "Das zu zeigen, ist letztlich das Neue an unserer Arbeit", sagt Keshmirian.

Als Erklärung vermutet die Münchner Forscherin eine Art Pi-mal-Daumen-Bruchrechnung im Kopf, mit der Menschen sich im Alltag die unterschiedlichsten Situationen zu erklären versuchen: Ein Ereignis wird durch die Zahl möglicher Ursachen geteilt - und je mehr es sind, desto geringer deren jeweiliger Einfluss. Ähnlich vermessen sie Schuld - auch wenn ihr das nicht gerecht wird.

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