Archäologie:Uralte Familienbande

Neandertaler-Vater trägt seine Tochter auf den Schultern

Ein Neandertaler-Vater trägt seine Tochter auf den Schultern.

(Foto: Tom Bjorklund/Tom Bjorklund)

Ein Team um Forscher aus Leipzig hat erstmals das Erbgut einer Neandertaler-Familie analysiert. Deren Zusammenleben ähnelte demnach dem des Homo sapiens: Die Neandertaler pflegten ähnliche Sitten bei der Partnerwahl.

Von Jakob Wetzel

Malerisch überragen die Felsen der Tschagyrskaja-Höhle ein Flusstal an den Ausläufern des Altai-Gebirges in Zentralasien. Vor Zehntausenden Jahren nutzten Gruppen von Neandertalern diese Karsthöhle im südlichen Sibirien als Jagdlager. Durch das Tal streiften einst Herden etwa von Bisons, Pferden und Steinböcken. Geblieben sind Hunderttausende Reste von Knochen und Steinwerkzeugen zusammen mit 80 Neandertaler-Fossilien - und diese liefern nun einen bislang einzigartigen Einblick in die Sozialstruktur dieser Vettern des modernen Menschen, die von vor etwa 430 000 Jahren bis zu ihrem Aussterben vor etwa 40 000 Jahren Eurasien bewohnten. Demnach lebten die Neandertaler in überschaubaren Gruppen, und zwar patrilokal. Das bedeutet: Die Männer blieben in der Regel zu Hause, die Frauen dagegen verließen ihre Gruppen und schlossen sich fremden Sippen an.

Dieses Verhalten ist bereits vom Homo sapiens bekannt. Analysen in den vergangenen Jahren haben immer wieder ergeben, dass die Frauen hier mobiler waren als die Männer. Im Lechtal südlich von Augsburg etwa fanden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus München, Tübingen und Jena 2017 Indizien dafür, dass die Männer meist aus der Region stammten, während die Mehrheit der Frauen wohl aus Böhmen oder Mitteldeutschland zugewandert war. Dieses patrilokale Muster lasse sich über einen Zeitraum von 800 Jahren nachweisen, bis in die Bronzezeit hinein. Auf dem Mitteldeutschen Archäologentag in Halle an der Saale Anfang Oktober sprach die damals beteiligte und mittlerweile in Leipzig tätige Archäogenetikerin Alissa Mittnik von einem weitreichenden Heiratsnetzwerk, das überregionale Beziehungen gefestigt haben dürfte. Die Archäologin Maïté Rivollat berichtete analog von Funden aus der Jungsteinzeit bei Gurgy in der Nähe von Auxerre in Frankreich. Auch dort hatten die Forscher genetische Hinweise darauf gefunden, dass die Männer in ihren Sippen blieben, während die Frauen ihre Gruppen wechselten.

In der Höhle lebten unter anderem ein Neandertaler-Vater und seine Teenager-Tochter

Nun zeigt sich: Die Neandertaler zumindest von Tschagyrskaja verhielten sich offenbar ähnlich. Deren Erbgut hat ein internationales Forschungsteam um Laurits Skov und Benjamin Peter vom Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie untersucht. Beteiligt war auch Svante Pääbo, der Begründer der Paläogenetik, dem für die Erforschung prähistorischer DNA unlängst der Nobelpreis für Medizin zugesprochen worden ist. Wie die Wissenschaftler nun in der Zeitschrift Nature berichten, untersuchten sie die Überreste von insgesamt 13 einstigen Höhlenbewohnern. Elf dieser Männer, Frauen und Kinder lebten vor grob 54 000 Jahren in der Tschagyrskaja-Höhle, zwei weitere untersuchte Individuen lebten etwas früher in der nahe gelegenen Okladnikow-Höhle. Es ist die bislang umfangreichste Untersuchung ihrer Art. Zum Vergleich: Bisher sind insgesamt erst 18 vergleichbare Genomdaten von Neandertalern aus 14 verschiedenen Fundstätten publiziert worden. Noch dazu ist es die erste Analyse einer klar definierbaren Neandertaler-Verwandtschaftsgruppe.

Denn unter den elf Tschagyrskaja-Individuen identifizierte das Team einen Vater und dessen jugendliche Tochter. Zudem stießen die Wissenschaftler auf einen acht- bis zwölfjährigen Jungen und eine erwachsene Frau, die dessen Cousine, Tante oder Großmutter gewesen sein könnte. Die Analysen deuten darauf hin, dass die Neandertaler die Höhle zur gleichen Zeit bewohnten, also möglicherweise Teil derselben Gemeinschaft waren. Weil die genetische Vielfalt sehr gering ist, gehen die Forscher zudem davon aus, dass diese Gemeinschaft eine Familie von etwa 20 Individuen war. Das wäre eine recht kleine Gruppe; doch bereits 2019 sind französische Forscher in Le Rozel in der Normandie zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen: Dort hatten sie Dutzende Neandertaler-Fußabdrücke untersucht und aus ihnen geschlossen, dass sie von zehn bis 13 Individuen stammten.

Archäologie: Elf der 13 untersuchten Neandertaler lebten hier in der Tschagyrskaja-Höhle in Sibirien.

Elf der 13 untersuchten Neandertaler lebten hier in der Tschagyrskaja-Höhle in Sibirien.

(Foto: Bence Viola/Bence Viola)

In kleinen Gruppen war auch der Homo sapiens als Jäger und Sammler unterwegs. Die Gruppengröße sei ein Balanceakt und hänge von der Umgebung ab, sagt Jean-Jacques Hublin, emeritierter Direktor am Leipziger Institut und nicht an der Arbeit beteiligt. Gruppen brauchen demnach eine Mindestgröße, damit sie sicher überleben und eine neue Generation begründen können. Doch sie dürfen auch nicht mehr Mitglieder haben, als sie ernähren können.

Solche Gruppen lebten aber nicht unbedingt in völliger Isolation, sondern vermutlich in einer Art Netzwerk-Verbund mit anderen Gemeinschaften in der Umgebung. Wie das funktioniert haben könnte, zeigt ein weiteres Resultat der Studie. Denn das Team untersuchte auch die genetische Vielfalt auf dem Y-Chromosom, das vom Vater zum Sohn vererbt wird, sowie die Vielfalt der mitochondrialen DNA, welche die Mutter an ihre Kinder weitergibt. Es stellte sich heraus, dass die mitochondriale genetische Vielfalt um den Faktor zehn höher war als die Vielfalt auf den Y-Chromosomen. Der Gen-Pool der Familien wurde also weniger über fremde Männer, sondern über den Zuzug von Frauen aufgefrischt. Das Team vermutet, dass mindestens 60 Prozent der Frauen ihre eigene Gemeinschaft verlassen und sich anderen Sippen angeschlossen hatten. "Die Männer waren näher miteinander verwandt, die Frauen kamen von außen", erläutert Hublin.

Dasselbe Verhalten bei der Partnerwahl findet sich auch bei Schimpansen

Hinweise auf solche Bräuche auch bei den Neandertalern hatten schon 2010 Forscher nach der Analyse von Fossilien in der Höhle El Sidrón in der nordspanischen Region Asturien beschrieben. Sie hatten Neandertaler-Erbgut von drei Frauen und drei Männern untersucht und festgestellt, dass die drei erwachsenen Männer von der gleichen Ahnenlinie abstammten, aber jede der drei Frauen von einer anderen Linie. Die Forscher deuteten das bereits als Beleg für eine patrilokale Lebensweise, ihre Interpretation war aber umstritten. Die neue Studie stütze die damalige Deutung, schreibt Lara Cassidy vom Trinity College Dublin in einem Nature-Kommentar zur Studie: "Skov et al. bieten den bislang überzeugendsten Beleg für ein solches Verhalten."

Unklar ist, ob die Erkenntnisse der Forscher nur für die Bewohner der Tschagyrskaja-Höhle gelten oder ob sie sich auf alle Neandertaler allgemein übertragen lassen. Doch sie würden nicht nur zur Sozialstruktur früher Gemeinschaften des Homo sapiens passen. Dasselbe Phänomen finde man sogar bei noch etwas weiter entfernten Verwandten des modernen Menschen, nämlich bei Schimpansen, sagt Jean-Jacques Hublin. "Auch dort bleiben die Männchen in jener Gruppe, in die sie geboren wurden."

Mit Material von dpa.

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