Netzkolumne:Herrliches Rauschen

Netzkolumne: Das Rauschen, das Babys und Erwachsene friedlich einschlafen lässt: White Noise.

Das Rauschen, das Babys und Erwachsene friedlich einschlafen lässt: White Noise.

(Foto: Roman Budnikov/PantherMedia/imago)

"White Noise" wird auf Streamingdiensten millionenfach abgerufen. Wieso einige nun fürchten, das beruhigende Rauschen könnte die Einnahmen von Musikern gefährden.

Von Michael Moorstedt

Nicht mehr aufwendig produzierte, nervenaufreibende True-Crime-Serien oder zynische Polit-Talks sind die am besten laufenden Audio-Formate auf Plattformen wie Spotify. Stattdessen hört man immer öfter ein Genre, das "Weißes Rauschen" genannt wird. Nichts passiert in diesen Tracks, die millionenfach angehört werden. Es gibt keine Beats, keine Melodie und erst recht keinen Gesang. Stattdessen Klanglandschaften aus Wasserplätschern und Lagerfeuergeprassel, es brummt und zischt, zirpt und wabert.

Der Erfolg ist schnell schlüssig erklärt. Wenn die Kakofonie der Gegenwart mal wieder zu laut poltert und alles schrecklich erscheint, reicht es nicht mehr aus, sie einfach auszublenden. Schließlich wirkt das Echo der Untergangsstimmung erst recht nach, wenn es still wird. Deshalb wissen sich scheinbar immer mehr Menschen nicht anders zu helfen, als die schlechten Nachrichten einfach zu übertönen.

Einschalten, um abzuschalten, heißt das Motto. Und sich zumindest einen Moment lang dem Gefühl hinzugeben, dass die Welt um uns herum wieder etwas leiser, gleichmäßiger und damit irgendwie auch ein bisschen mehr in Ordnung ist. In der strengen Definition der Audiotechniker ist weißes Rauschen tatsächlich nur ein sehr gleichmäßiges Rauschen, auch das gibt es auf Spotify, und sogar braunes oder gar pinkes. Die unterschiedlichen Spielarten unterscheiden sich hauptsächlich in der Höhe der wahrgenommenen Frequenzen. Rosa klingt ein bisschen heller, braun ein bisschen tiefer. Inzwischen wird der Begriff aber für viele beruhigende Hintergrundgeräusche verwendet.

Eigentlich war das Rauschen mal als Einschlafhilfe für Kleinkinder gedacht - heute benutzen es auch Erwachsene

Da wir uns aber hauptsächlich im Internet befinden, suchen die Menschen natürlich direkt einen Weg, mit den Nicht-Tönen Geld zu verdienen. Apple integriert Hintergrundgeräusche als Option in sein nächstes Mac-Betriebssystem, millionenfach heruntergeladene Apps wie "Atmosphere: Relaxing Sounds" oder "White Noise - Sleep like a Baby" bieten ihren Nutzern auditive Ablenkung, und natürlich gibt es auch auf Spotify zahllose Playlists, die mit Minimal-Musik oder mit meditativen Umgebungsgeräuschen eine geradezu sedierende Wirkung versprechen. Einer der populärsten Tracks wurde inzwischen mehr als 800 Millionen Mal wiedergegeben. Hochgerechnet auf die Tantiemen pro Abruf belaufen sich die Einnahmen dafür auf schätzungsweise zweieinhalb Millionen US-Dollar.

So ist es kein Wunder, dass in den letzten Jahren Tausende suchmaschinenoptimierte "Künstler" entstanden sind, die scheinbar wahllos die bislang ausgemusterten Geräusche der Welt monetarisieren. "Wirklich hirnlos zu produzieren", zitiert die Website Onezero einen anonymen Sounddesigner, der die entsprechenden Tracks in der Vergangenheit auf entsprechende Accounts hochgeladen hat. "Sie haben keine Ahnung, wie viel Zeit ich damit verbracht habe, Ventilatoren aufzunehmen."

Von "White Noise Spam" sprechen deshalb auch Kritiker. Musiker fürchten, dass ihnen durch die Konkurrenz Einnahmen entgehen. Schließlich sei der Aufwand, tatsächlich Musik zu komponieren und zu produzieren, kaum damit vergleichbar, bei einem Regensturm ein Mikro aus dem Fenster zu halten. Deshalb sei es fragwürdig, so meint etwa Tom Gray, Mitgründer des britischen Künstlerkollektivs Broken Record, das sich für eine fairere Vergütung von Musik-Streams einsetzt, dass die Abrufe gleich viel einbringen. "Dadurch wird das Geld von Songs abgezogen, die einen kulturellen Wert haben, denn es kommt alles aus der gleichen Quelle", so Gray. "Es sollte einen anderen Geldtopf für diese Dinge geben."

Den Hörern sind solche kulturwirtschaftlichen Einwürfe natürlich recht egal. Hauptsache Ruhe - oder eben nicht. Manche Menschen benutzen das Rauschen auch tatsächlich noch so, wie es einmal gedacht war. Nämlich als Einschlafhilfe für ihre Kleinkinder. Da kann es dann schon mal vorkommen, dass man die Regengeprassel-App auf Rockkonzertlautstärke hochschraubt, bis der liebe Nachwuchs seinen Widerstand gegen den Schlaf aufgibt. Und wenn es endlich so weit ist, wenden die Erwachsenen das gleiche Rezept bei sich selbst an.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusMeinung"Midnights" von Taylor Swift
:Von nun an also auf eigene Gefahr

Euphorie, Leid, Wut, Selbstzerfleischung: Taylor Swift erkundet auf ihrem neuen Album die Nacht - und natürlich einmal wieder sich selbst. Warum beides fantastisch ist.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: