Antisemitismus - 50 Jahre nach dem Olympia-Attentat:"Ich sehe totalitäre Tendenzen hier aufkommen"

Antisemitismus - 50 Jahre nach dem Olympia-Attentat: Die Veranstaltung "50 Jahre Olympia-Attentat" im Großen Sitzungssaal des Rathauses - in der Mitte sitzt der Psychologe Louis Lewitan. Außerdem mit auf dem Podium (von links): Moderator Felix Balandat, Autorin Laura Cazès, Rias-Leiterin Annette Seidel-Arpaci und Antisemitismusforscher Jakob Baier.

Die Veranstaltung "50 Jahre Olympia-Attentat" im Großen Sitzungssaal des Rathauses - in der Mitte sitzt der Psychologe Louis Lewitan. Außerdem mit auf dem Podium (von links): Moderator Felix Balandat, Autorin Laura Cazès, Rias-Leiterin Annette Seidel-Arpaci und Antisemitismusforscher Jakob Baier.

(Foto: Robert Haas)

Judenfeindlichkeit breite sich wieder aus, warnt der Psychologe Louis Lewitan. Bei einer Diskussionsrunde im Rathaus kritisiert er, Deutschland tue alles, um in der "Königsdisziplin des Vergessens" der Sieger zu sein.

Von Joachim Mölter

Es sind keine schönen Aussichten, die der Psychologe Louis Lewitan am Dienstagabend eröffnete. "Ich sehe totalitäre Tendenzen hier aufkommen", sagte der in München aufgewachsene Deutsch-Franzose, Sohn jüdischer Eltern. Zeit seines Lebens war der 67-Jährige von Antisemitismus betroffen, also der pauschalen Form von Judenfeindlichkeit. Nun beobachte er eine "neue Phase": "Antisemitismus hört nicht auf, er breitet sich vielmehr aus. Und antisemitische Tendenzen sind immer demokratiefeindlich."

Louis Lewitan sprach als Zeitzeuge bei einer Diskussionsrunde im fast vollbesetzten Großen Sitzungssaal des Rathauses zum Thema "50 Jahre Olympia-Attentat - Antisemitische Allianzen und Kontinuitäten". Veranstaltet wurde die Debatte von der städtischen Fachstelle für Demokratie in Zusammenarbeit mit drei weiteren hiesigen Institutionen: der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias), dem Verband Jüdischer Studenten und dem Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.

Dabei war das Olympia-Attentat von München 1972 lediglich der Ausgangspunkt, um den Bogen in die Gegenwart zu spannen und zu zeigen, wie das Phänomen Antisemitismus weiterbesteht, mal mehr, mal weniger unterschwellig. Schon damals sei deutlich zu sehen gewesen, dass Judenfeindlichkeit in vollkommen gegensätzlichen Milieus gedeiht, wie der Antisemitismusforscher Jakob Baier, Doktorand an der Universität Bielefeld, in seinem einleitenden Vortrag erklärte: "Der Olympia-Anschlag von München wurde logistisch unterstützt von deutschen Neonazis und gefeiert von deutschen Linksextremen." Judenhass habe sich freilich bereits lange vorher ausgeprägt als Gemeinsamkeit verschiedener politischer Lager. Schon Politiker und Publizisten des deutschen Kaiserreichs hatten gegen die Idee eines jüdischen Staates agitiert. Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es dann auch in sozialistischen Bewegungen entsprechende Strömungen.

"Antisemitismus kommt aus allen möglichen politischen Richtungen", stellte Annette Seidel-Arpaci fest, die Rias-Leiterin in Bayern. Die hauptberuflich bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland tätige Laura Cazès formulierte es so: "Es gibt keinen einzigen Antisemitismus-freien Bereich in der deutschen Gesellschaft." Politik, Kultur, Wissenschaft - überall fänden sich Anzeichen für eine wiederbelebte Judenfeindlichkeit. Die sei so etwas wie ein "ideologischer Kitt". Die gebürtige Münchnerin hat jüngst ein Buch herausgegeben mit Essays über die Gefühlslage von Juden. "Sicher sind wir nicht geblieben" heißt das Werk und es behandelt die latente Bedrohung, der sich Juden auch nach dem Holocaust hierzulande noch ausgesetzt sehen, häufig nur mit leisen Bemerkungen, gelegentlich auch durch Taten.

Die Mitte der deutschen Gesellschaft habe ihren Antisemitismus nicht aufgearbeitet

In der Öffentlichkeit werde Antisemitismus freilich immer nur wahrgenommen, wenn er sich in Form von körperlicher Gewalt niederschlage: "Er ist erst dann wieder ein Thema, wenn er nicht mehr negierbar ist", sagt Cazès. Ansonsten tue man (verbale) Übergriffe als Einzelfälle ab. Der Antisemitismus-Experte Baier erklärt dazu: "Über Jahrhunderte tradierte judenfeindliche Erzählungen sind offensichtlich so tief ins Unbewusste eingesickert, dass sie von vielen Menschen gar nicht mehr als antisemitisch wahrgenommen werden." Für Cazès ist der von Politikern gern vorgetragene Satz, "in Deutschland ist kein Platz für Antisemitismus", jedenfalls bloß eine Schutzbehauptung.

Was das Sicherheitsgefühl von Juden in Deutschland angeht, kann Louis Lewitan der Autorin nur zustimmen. "Sicherheit war nie gegeben", sagt er angesichts von rechtsextremen Parteien wie NPD und DVU oder der in dieselbe Richtung gehenden National-Zeitung, die in der Nachkriegszeit weiter judenfeindliches Gedankengut verbreiteten. Für Cazès ein weiterer Beleg, dass "die Mitte der deutschen Gesellschaft ihren Antisemitismus nicht aufgearbeitet" hat. Auch das Narrativ vom importierten Antisemitismus durch Muslime sei eine "wunderbare Erklärung, um sich nicht selbst hinterfragen zu müssen".

Jakob Baier sprach in diesem Zusammenhang von einer "Erinnerungsabwehr". Neben Leugnung des Holocaust sei der "Post-Shoah-Antisemitismus" auch geprägt von einer Opfer-Täter-Umkehr, wie sie beispielsweise Ankie Spitzer erfahren habe, Witwe eines der 1972 ermordeten Israelis. Ihr hat der Münchner Polizei-Vizepräsident Georg Wolf einmal gesagt, die Israelis seien im Grunde selber schuld an dem Massaker, sie hätten doch den Terror nach Deutschland gebracht.

Auch der Psychologe Lewitan bestätigt den Eindruck einer Erinnerungsabwehr deutscher Politiker und Behörden: "Deutschland tut alles dafür, um in der Königsdisziplin des Vergessens, Verdrängens und Verleugnens der Sieger zu sein." Jakob Baier schildert das am Beispiel des Schriftstellers Günter Grass, der seine SS-Mitgliedschaft sehr lange vergessen hat: "Grass hat nach dem Anschlag 1972 einen Brief an Bundeskanzler Willy Brandt geschrieben, in dem er sich vor allem um das Image der Deutschen im Ausland sorgte, nicht aber um das Schicksal der Opfer und ihrer Hinterbliebenen." Auch die Einigung mit den Opferfamilien in diesem Olympia-Jubiläumsjahr sei nur "von der Furcht der politisch Verantwortlichen vor einem erneuten Ansehensverlust geleitet" gewesen.

Die Diskussion um Entschädigungszahlungen an die Hinterbliebenen verortet Annette Seidel-Arpaci auch in der Kontinuität antisemitischer Ressentiments. Da habe es gleich wieder geheißen: "Aha, die wollen Geld." Dabei war es Ankie Spitzer und den Opfer-Familien vor allem um eine Aufarbeitung des Schicksals ihrer Angehörigen gegangen. Ganz offensichtlich ist die Aufarbeitung der Geschichte weit über das Olympia-Attentat von 1972 hinaus nötig.

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