Tradition und Brauchtum:Lichtblicke in dunkler Zeit

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Denkbares Szenario: Sollte die Glühbirne mangels Strom nicht mehr brennen, müssen die Notfallkerzen aus der Schublade hervorgeholt werden. (Foto: imago/YAY Images)

Kerzen waren über Jahrhunderte hinweg ein Hauptlieferant für Licht und Wärme. In der momentanen Energiekrise könnten sie wieder an Bedeutung gewinnen. Zum Segen des alten Handwerks der Wachszieher und zur Freude jener Menschen, die das Kulturgut Wachskerze zu schätzen wissen.

Von Hans Kratzer, München

Der Samerberger Bürgermeister Georg Huber teilte kürzlich seinem Gemeinderat mit, ein Krisenstab befasse sich von nun an mit dem Thema Stromausfall. Samerberg ist beileibe kein Einzelfall, ganz im Gegenteil: Immer mehr Städte und Kommunen haben ähnliche Krisenstäbe ins Leben gerufen, um auf einen möglichen Blackout vorbereitet zu sein. Die Augsburger Oberbürgermeisterin Eva Weber (CSU) rief die Bevölkerung auf, sich privat mit Lebensmitteln, Taschenlampen und Kerzen für den Ernstfall zu rüsten.

So wichtig dies alles sein mag, die Feuerwehren sehen die Entwicklung nicht nur wegen des Energiemangels mit Sorge. Wenn künftig in den Häusern wieder mehr Kerzen brennen, seien Zimmerbrände absehbar, warnen sie. Tatsächlich erfahren die Kerzen momentan eine wachsende Aufmerksamkeit. Sollte der Strom tatsächlich längere Zeit ausfallen, dann müssen ausgerechnet sie wieder für Licht und Wärme sorgen. Bis ins frühe 20. Jahrhundert herein war das der Normalfall. Vor allem auf dem Land zog es sich lange hin, bis die elektrische Energieversorgung Realität wurde.

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Im Internet kursieren derzeit viele Bastelanleitungen für Teelichtöfen und Kerzenheizungen. Auch dieser Trend macht die Feuerwehren nervös. Sie warnen nicht nur davor, Kerzen unbeaufsichtigt brennen zu lassen. Auch Teelichtkonstruktionen bergen Gefahren, denn die dafür verwendeten Blumentöpfe können sehr heiß werden und zerspringen.

Der Lebzelter und Wachszieher Hans Hipp stellte bis zu seinem Ruhestand in seinem Geschäft in Pfaffenhofen hochwertige Kerzen her. (Foto: Marco Einfeldt)

Gleichwohl: Wer die instabilen Stromnetze von einst noch selber erlebt hat, der weiß, wie wichtig der Zugriff auf eine Notfallkerze ist. "Man sollte sie im Haushalt so deponieren, dass man auch in der Finsternis blind darauf zugreifen kann", rät der ehemalige Wachszieher Hans Hipp aus Pfaffenhofen.

Der Beruf des Wachs- oder Kerzenziehers zählt zu den ältesten der Welt. Hipp sagt, schon im Codex Salmasius, einer Gedichtsammlung aus der Antike, werde Wachs als heiliges Leuchtmittel beschrieben. Im religiösen Kontext wurde für die Kerzen stets das kostbare Wachs der Bienen verwendet. Trotzdem: Im Alltag dominierten früher aus Kostengründen Kerzen, die aus Rinderfett gefertigt wurden. Bienen- und pflanzliches Wachs waren sehr teuer und blieben vor allem den Kirchen und dem Adel vorbehalten. In größeren Kirchen war es durchaus üblich, dass jährlich Zehntausende Pfund an Wachskerzen niederbrannten.

Ein vertrautes Bild an Allerheiligen: Lichter erhellen die Grabstätten. Daraus ergab sich aber auch so manche Gruselsage. (Foto: Robert Kalb/imago)

Die Licht spendende Kerze sei ein hohes Symbol des Lebens, so ist es im "Wörterbuch der Deutschen Volkskunde" zu lesen. Deshalb ist die Kerze gerade an Allerheiligen und Allerseelen auf den Gräbern nicht wegzudenken. Der nächtliche Friedhof mit den flackernden Lichtern, das ist ein ergreifender Anblick, der bisweilen auch ein Gruseln auslöst. Vor allem, wenn Ur-Mythen zum Leben erweckt werden wie im November 1983, als der Popsänger Michael Jackson den Videoclip "Thriller" veröffentlichte. Tanzende Zombies auf einem Friedhof sind darauf zu sehen, eine apokalyptische Szenerie, die den Eindruck erweckt, als habe sie der US-Superstar aus alten bayerischen Sagen entnommen. Besonders in der düsteren Zeit wurde in den hiesigen Dörfern gerne erzählt, dass die Toten an Allerseelen aus ihren Gräbern stiegen, um dann auf dem von Kerzen illuminierten Friedhof zu tanzen.

Wo sich Tod, Finsternis und Licht vermengten, war der Weg zum Aberglauben nicht weit, wobei sich die Volksfrömmigkeit mit heidnischen Überlieferungen kreuzte und die kuriosesten Anschauungen hervorbrachte. Wie etwa jene aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich manche Leute im Bayerischen Wald Lotteriegewinne erhofften, indem sie um einen Totenkopf herum 90 bezifferte Kerzen anzündeten und dann auf diejenigen Nummern setzten, deren Licht zuerst erlosch.

Dieses Beispiel zeigt, mit welcher Fantasie die Menschen jahrhundertelang banale Dinge mit Magie aufluden, um Unheil abzuwenden und Glück zu erheischen. In frommer Hoffnung wurden aber auch Abertausende Kerzen- und Wachsopfer in die Wallfahrtskirchen getragen. Die Menschen fühlten sich den Mächten der Natur hilflos ausgeliefert, es gab ja noch keine Blitzableiter, keine Krankenversicherung und keine Tierärzte. Im Mirakelbuch der Wallfahrtsstätte Niederscheyern ist zu lesen: "Ursula Abelshauserin hatte unglickh in vich, verlobt sich demnach hieher mit einer weisen kerz, gebett, und opfer in stockh, worauf das vich bessr worden."

In Altötting kann man immer noch schwarze Wetterkerzen kaufen, die daheim bei einem heranziehenden Unwetter angezündet werden. Unmengen solcher Wetterkerzen wurden einst verkauft. "Man glaubte, dass sie einen stärkeren Segen haben", sagt Hans Hipp, auch weil sie mit dem Gnadenbild oder einem Bruder-Konrad-Motiv versehen waren.

Wie es ein Gelübde von 1492 vorschreibt, tragen Wallfahrer einen 13 Meter langen und mit rotem Wachs umwickelten Fichtenstamm aus dem 75 Kilometer entfernten Holzkirchen zur Wallfahrtskirche auf dem Bogenberg. (Foto: Armin Weigel/picture alliance)

Auch große Wallfahrten belegen, welch eine Wirkmacht den Kerzen zugesprochen wurde. Spektakulär ist die Kerzenwallfahrt, die am Pfingstsamstag in Holzkirchen (Gemeinde Ortenburg) beginnt und über 75 Kilometer zum Heiligtum auf den Bogenberg bei Straubing führt. Die Kerze, ein von Wachs umwickelter, 13 Meter langer Fichtenstamm, wird an manchen Stellen stehend getragen. Die Wallfahrt entstand am Ende des 15. Jahrhunderts, als eine Borkenkäferplage die Wälder um Holzkirchen bedrohte.

Was Wunder, dass das Wachszieherhandwerk eines der ältesten Gewerbe der Welt ist. Es gibt sogar noch eine Kerzeninnung, der mehrere Dutzend Betriebe angehören. Die Wachszieher hatten sich bereits anno 1450 zu einer eigenständigen Zunft zusammengeschlossen. Später übten sie, wie auch die Familie Hipp in Pfaffenhofen, ein Doppelgewerbe aus Wachszieherei und Lebzelterei aus. Aber auch dieses ehrwürdige Handwerk ist unter Druck geraten. Qualitätskerzen herzustellen ist teuer und aufwändig, die aus Asien importierte Billigware hat den Markt überschwemmt. Handelsüblich bekommen Kunden fast nur noch industriell gepresste Paraffinkerzen.

Martin Schenk aus Würzburg ist dagegen mit seinem seit 1750 bestehenden Familienbetrieb dem alten Verfahren treu geblieben. "Wir ziehen unsere Kerzen wie vor 200 Jahren", sagt er. Dabei wird der Docht so lange durch das Wachsbad durchgezogen, bis die Kerze aussieht wie ein Baumstamm mit Jahresringen. "Solche Kerzen sind qualitativ mit Kaufhausprodukten nicht vergleichbar", sagt Schenk. Sie sind schwerer, brennen länger und ruhiger. Aber man muss sie gut pflegen.

Sämtliche christlichen Feste wären ohne Kerzen und ihre Lichtsymbolik undenkbar. Dementsprechend sind die Pfarreien bis heute Großabnehmer der Wachszieher. Die Kirchenkerzen müssen jedoch nicht mehr wie früher 100 Prozent Bienenwachs enthalten, sondern nur noch zehn Prozent. Der Münchner Wachszieher Franz Fürst, dessen Geschäft ebenfalls schon seit 1862 besteht, mischt Paraffin, Stearin, Hartwachs und Bienenwachs nach einem Rezept seines Großvaters.

"Dass wir wegen der Energiekrise mehr Kerzen verkaufen, merken wir noch nicht", heißt es in Fürsts Wachszieherei am Münchner Dom. In der dunklen Jahreszeit und vor Allerheiligen steige der Absatz aber schon deutlich. In den Häusern machen Designerlampen und Neonröhren die Nacht zum Tage. Und doch schaffen sie es nicht, ein solches Gefühl von Behaglichkeit zu erzeugen wie die Kerze. Nicht umsonst steht sie für das Transzendente und für jene Hoffnung, die viele Menschen an Allerheiligen an die Gräber ihrer Angehörigen eilen lässt.

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