Theater:Die Tragödie des Scheiterns

Theater: Spielerische Freiheit: Sylvana Krappatsch, Josephine Köhler und Peter Fasching (v.l.).

Spielerische Freiheit: Sylvana Krappatsch, Josephine Köhler und Peter Fasching (v.l.).

(Foto: Thomas Aurin)

Dušan David Pařízeks rasante Inszenierung von Anne Webers Roman "Annette, ein Heldinnenepos" am Schauspiel Stuttgart.

Von Adrienne Braun

Hätte man ein solches Leben erfunden, das Publikum hätte abgewunken. Zu konstruiert und einseitig. Schon mit fünf kräht Annette sozialistische Parolen heraus. Mit 15 will sie Terroristin werden - und geht fortan mit gereckter Faust durchs Leben. Sie rettet jüdische Kinder. Sie stellt sich in der Résistance gegen die Nazis, in Algerien gegen den Kolonialismus und zwischendrin als Kommunistin gegen den Machtmissbrauch ihrer Genossen. Eine Frau, die an allen Fronten kämpft - auch gegen sich selbst.

Das Schauspiel Stuttgart jagt nun durch diese irrwitzige Biografie der Anne Beaumanoir, die keineswegs eine Erfindung der Autorin Anne Weber ist, sondern 1923 in der Bretagne geboren wurde. Als Anne Weber sie zufällig kennenlernte, war sie so fasziniert, dass sie deren Geschichte aufschreiben wollte. Inzwischen erobert ihr Roman "Annette, ein Heldinnenepos" die Theater. Denn Anne Beaumanoir, die Annette genannt wurde, mag keine Heldin gewesen sein, Stoff für ein großes Bühnendrama liefert ihr Leben allemal.

In der Inszenierung am Schauspiel Stuttgart teilen nun sogar drei Schauspielerinnen dieses lange Leben unter sich, als wäre soviel Widerstandsgeist zuviel für eine allein. Der Regisseur Dušan David Pařízek kommt ohne Requisiten und Kostümwechsel aus, nicht einmal der riesige Würfel aus Holzlatten in der Bühnenmitte wird als Spielort genutzt. Er dient einzig als Projektionsfläche für vereinzelte historische Fotos und zartes Schattenspiel.

In riskanten Einsätzen setzte Annette ihr Leben aufs Spiel.

Und doch ist dieser zweistündige Parforceritt über Annettes Schlachtfelder dicht und packend. Das liegt am Tempo, das diese Inszenierung anschlägt, sodass flugs aus Muttis "kleiner Jungkommunistin" ein störrisches Mädchen wird, das "öde, tatenlos" Missionen und Heldentaten entgegenfiebert. Beaumanoir studierte Medizin und wurde Professorin für Neurophysiologie - und hielt es doch für ihre "Schuldigkeit und Pflicht", in riskanten Einsätzen ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Der Preis war hoch. Sie musste nicht nur nach Tunesien fliehen, um dem Gefängnis zu entkommen. Sie opferte auch ihr privates Glück. "Die Kommunisten haben keine Liebe vorgesehen", heißt es einmal in dem Stück, als Annette ihrer großen Liebe Adieu sagt. Es wird nicht die einzige Beziehung bleiben, die zerbricht.

Als Anne Weber 2020 den Deutschen Buchpreis für "Annette, ein Heldinnenepos" bekam, reagierte die Kritik irritiert, da sie ausgerechnet die verblasste Form des Epos' gewählt und die Geschichte der Freiheitskämpferin in Prosaversen erzählt hatte. Dušan David Pařízek hat eine Textfassung erstellt, die keinen Zweifel an der Stärke von Webers Sprache lässt. Sie besticht nicht nur durch Treffsicherheit, sondern auch durch eine verführerische Ironie, hinter der Gewalt, Tod und Verlust umso schmerzlicher aufblitzen.

Fast übermütig fliegen die Szenen dahin.

Eine Strategie, mit der auch die Stuttgarter Inszenierung das Publikum bei der Stange hält. Denn notgedrungen müssen in diesem verbalen Pingpong auch sperrige Sachverhalte und politische Zusammenhänge erläutert werden. Dušan David Pařízek kredenzt diese Passagen mit spielerischer Freiheit. Hier wird gesächselt, dort Wienerisch gesprochen, dann wieder müssen Sarah Franke und Josephine Köhler die Stimme ulkig verstellen. Die dritte Annette ist Sylvana Krappatsch. Sie ist höchst souverän und brilliert in diesem ordentlich agierenden Frauen-Trio, das von Peter Fasching ergänzt wird. Er spielt sämtliche Männerrollen, sorgt aber auch an Klavier und E-Gitarre für den musikalischen Rahmen mit dezenten Anklängen an die Internationale oder "Je t'aime".

Fast übermütig fliegen die Szenen dahin, doch hinter all dieser vermeintlichen Leichtigkeit entpuppt sich Annettes Kampf um Gerechtigkeit zunehmend als große Tragödie. Mit schauriger Selbstverständlichkeit keimen immer neue Missstände auf und wird Annette zum einsamen Sisyphos, der nie ans Ziel kommen kann. Voller Bitterkeit muss sie erkennen, dass die algerische Unabhängigkeitsbewegung nur neue Gewalt hervorgebracht hat. Sie hat alles eingebüßt und sogar ihre Familie im Stich gelassen "für einen souveränen Staat, der binnen kurzer Zeit zu einem Militärregime mutiert ist".

Mit lautem Knall krachen am Ende die Wände des riesigen hölzernen Würfels auf den Bühnenboden. Das Publikum wurde vorab mit einem Schild gewarnt: "Es wird laut." Für Beaumanoir war das Leben hier aber noch längst nicht vorüber. Da sie nach ihrer Flucht in Frankreich auf der Fahndungsliste stand, zog sie 1965 zunächst nach Genf, um ihren Kindern näher zu sein und konnte erst nach einer Amnestie nach Frankreich zurückkehren. Im Frühjahr ist die gescheiterte Heldin mit 98 Jahren gestorben.

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