Das Politische Buch:Die Not der anderen

Das Politische Buch: Lebensgefährliche Reise übers Mittelmeer: Afrikanischer Geflüchteter, im Oktober in Italien angekommen.

Lebensgefährliche Reise übers Mittelmeer: Afrikanischer Geflüchteter, im Oktober in Italien angekommen.

(Foto: Fethi Belaid/AFP)

Arbeitserlaubnis für Ukrainer und Pushbacks für Syrer - die Asylpolitik der EU ist von Widersprüchen geprägt. Warum uns das selbst ganz direkt betrifft, beschreibt die Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger.

Von Nina von Hardenberg

Deutschland nimmt eine neue Kategorie von Flüchtlingen auf: Die Kriegsvertriebenen. Das Wort verwenden Politiker seit einiger Zeit für Menschen, die vor Putins Angriffskrieg fliehen. Es klingt nach großem, unverschuldetem Leid: Bei Flucht entzieht sich ein Mensch rein sprachlich gesehen aktiv einer Notlage. Vertreibung dagegen ist passiv, der Vertriebene somit das ultimative Opfer seiner Umstände.

Es bedurfte eines solchen neues Wort, um den Asyldiskurs zu drehen, argumentiert die österreichische Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger in ihrem Buch "Das Fluchtparadox". Jahrelang ging es in der öffentlichen Debatte darum, die EU gegen weiteren Zuzug von Flüchtlingen abzuschotten. Nun aber wollte man plötzlich Millionen unbedingt willkommen heißen.

Neue Probleme für das Asylrecht

Hurra, könnte man rufen. Die EU zeigt sich endlich geschlossen und human im Umgang mit Vertriebenen. Kohlenberg aber raubt dem Leser diese Hoffnung gleich wieder: Den universellen Schutzanspruchs des Asylrechts sieht sie durch die einseitige Hilfe für die Ukraine eher bedroht.

Eine Arbeitserlaubnis für Ukrainer und Pushbacks für Syrer - Widersprüche wie diese prägen die gesamte Asylpolitik, schreibt Kohlenberger. Ihr Buch deckt sie alle auf: Schon Flucht an sich sei ein Paradox, schreibt sie: Man will bleiben, muss aber weg. Um zu seinem Recht auf Schutz zu kommen, muss man Recht brechen und illegal einreisen.

Paradox ist auch der Umgang unserer Gesellschaft mit Flüchtlingen. Recht auf Schutz haben in unserer Vorstellung vor allem die maximal Hilfsbedürftigen, Frauen mit Kindern etwa, Kranke, Ertrinkende. Gleichzeitig feiern wir dann die Fitten und Fleißigen als Beispiele gelungener Integration. Den Ankommenden gewähren wir wenig Rechte, vielfach dürfen sie nicht mal arbeiten. Trotzdem sollen sie sich möglichst schnell integrieren.

Der Vorwurf: Europa ist zu bequem

Ein andere, weniger paradoxe Flüchtlingspolitik wäre möglich. Mit Aufnahmen direkt aus den Flüchtlingslagern des UNHCR, mit sicheren Fluchtwegen und legaler Einwanderung für die Arbeitsfähigen, schreibt Kohlenberger. Aber wo sind die Bürger, die dafür kämpfen? Die Europäer seien zu bequem, zu selbstgewiss auch, dass ihnen die Rechtlosigkeit, wie sie im Mittelmeer und auf Lesbos herrscht, nicht passieren kann.

Das Politische Buch: Judith Kohlenberger: Das Fluchtparadox. Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen. Kremayr & Scheriau, Wien 2022. 240 Seiten, 24 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

Judith Kohlenberger: Das Fluchtparadox. Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen. Kremayr & Scheriau, Wien 2022. 240 Seiten, 24 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

(Foto: Kremayr & Scheriau)

"Grundrechte kann man nicht einfach für die einen abstellen, während sie für die anderen weiter gelten", schreibt sie. Sie seien wie die Luft. Entweder alle haben sie oder keiner. Wo sie fehlen, breiten sich illegitime Tendenzen aus. Nicht zufällig würden die Rechte von Asylsuchenden gerade in Ländern wie Polen und Ungarn mit Füßen getreten.

Asylpolitik betrifft uns alle, das ist die simple und durchaus aufrührende Message ihres Buches. Wer sich konkrete Handlungsanweisungen an die Politik gewünscht hat, wird enttäuscht. Dafür beschenkt die Autorin die Leser mit einem moralischen Auftrag: Es gehe darum, die Geflüchteten, nicht als Andere zu betrachten, sondern als Menschen, die wir selbst sein könnten. Verantwortung übernehmen hieße, sich konsequent und beharrlich in jeden, der da kommt, hineinzuversetzen. Eine Asylpolitik, die das beherzigen würde, wäre ohnehin eine andere.

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