Tischtennis:Für ein paar Minuten Glück

Tischtennis: "Du kannst weiterkämpfen oder aufgeben", sagt Lev Katsman aus der Trainingsgruppe des TTC Neu-Ulm.

"Du kannst weiterkämpfen oder aufgeben", sagt Lev Katsman aus der Trainingsgruppe des TTC Neu-Ulm.

(Foto: Hafner/Nordphoto/Imago)

Im Schatten der Stars um Dimitrij Ovtcharov trainieren beim Tischtennis-Erstligisten TTC Neu-Ulm vier junge Russen. International sind sie gesperrt, von den Familien getrennt - und doch voller Hoffnung auf bessere Zeiten. Im Bundesliga-Spitzenspiel gegen Düsseldorf haben sie sich zeigen dürfen.

Von Andreas Liebmann

Unverkennbar: Sie hatten Spaß, und schon das war bemerkenswert. Maksim Grebnev hatte sich ein Frottee-Stirnband unter den hellblonden Undercut-Haarschopf gezogen, so sah alles noch viel wilder aus, was der 20-Jährige dann gemeinsam mit Lev Katsman trieb. Wie entfesselt wuchteten die beiden jungen Tischtennisprofis knallharte Topspins hin und her, warfen sich in Abwehraktionen, zeigten krumme Stopps, schossen seitlich am Netzpfosten vorbei, lachten, strahlten. Und irgendwann - obwohl das hier weder ein Showkampf war noch ein WM-Finale, sondern lediglich das kurze Warmspielen vor einem Bundesligaduell -, irgendwann begannen die tausend Zuschauer in der Halle tatsächlich für die beiden zu klatschen. Vermutlich gar nicht ahnend, wie gut das tat.

Knapp zweieinhalb Stunden später. Versonnen wischt Katsman, 21, über sein Handy. Still ist es jetzt. Banden, Tisch, Bodenbelag und Aufsteller werden im Hintergrund abgebaut, auch der 100 000-Volt-Hallensprecher des TTC Neu-Ulm hat sein Tagwerk als Einpeitscher beendet. Katsman sitzt noch immer an jenem Tisch, an dem sich zuvor eine lange Schlange von Menschen an ihm und den anderen entlanggearbeitet hat, um sich Autogramme zu holen und schließlich Richtung Parkplatz zu entschwinden. Ein paar Autogrammkarten liegen noch vor ihm. "Wow, unbelievable!", sagt er in gutem Englisch, angesprochen auf die Kulisse dieses Abends. Unglaublich. Aufregend. "Ich habe noch nie vor so vielen Menschen gespielt." 2020 ist er in seinen jungen Jahren mit Grebnev schon einmal Europameister im Doppel geworden, nun sagt er: "Ich habe die Unterstützung gefühlt. Und ich bin so glücklich darüber."

Klar, viele der Leute waren gekommen, weil Timo Boll zu Gast war. Trotzdem haben sie ihn angefeuert: Lev Katsman aus Chabarowsk, einer Region ganz im Osten Russlands, an der Grenze zu China, 7700 Kilometer Luftlinie von hier. Ihn und Vladimir Sidorenko, seinen Landsmann aus Sibirien. Für Grebnev ist an diesem Tag nur das Einspielen geblieben, für Nikita Artemenko die Zuschauerrolle. Trotzdem war es ein echtes Heimspiel für die vier jungen Russen, die hier die kleine Trainingsgruppe des TTC Neu-Ulm bilden. Die sich hier beweisen, zu großen Karrieren aufbrechen wollen, aber feststecken in einer Situation, für die sie nichts können. Die bei keinem internationalen Turnier starten dürfen, weil ihr Land nun mal ein anderes überfallen hat. Die schon "hin und wieder mal einen blöden Kommentar" einstecken müssten beim Einkaufen, wie Neu-Ulms Klubchef Florian Ebner erzählt. Weil sie eben Russen sind. Und für die die Leute in der Halle an diesem Abend trotzdem geklatscht haben.

"Sie müssen diese Zeit irgendwie überstehen", sagt der Klubchef. "Dazu brauchen sie unsere Unterstützung."

Für ihren Verein war es einer der bislang aufregendsten Tage seit der Gründung 2019. Zunächst hatte der TTC am Vormittag einen Champions-League-Sieg errungen gegen den polnischen Vertreter KS Dzialdowo, 3:1, schon das vor mehreren hundert Zuschauern. Es spielten die neuen Top-Ten-Stars, die der Klub im Sommer auch deshalb geholt hat, weil er nach Kriegsbeginn annehmen musste, seine jungen Russen könnten für alle internationalen Wettbewerbe gesperrt werden, also auch für die Champions League. Und natürlich, weil die Gelegenheit einfach günstig war. Zwei Siege holte Lin Yun-ju aus Taiwan, einen der Schwede Truls Moregardh - nur Dimitrij Ovtcharov patzte überraschend gegen den japanischen Penholder-Routinier Kaii Konishi. Ihm habe die Frische gefehlt nach der jüngsten Asienreise, erklärte der Olympia-Dritte geknickt.

Und dann eben am späten Nachmittag desselben Tages: die Ligapartie gegen Rekordmeister Düsseldorf. Spitzenspiel vor tausend Fans. "Ein auswärtiger Timo Boll zieht noch besser als drei heimische Topstars", zog Ebner zwar verwundert den Vergleich zum Vormittag, andererseits sehe er Boll ja selbst sehr gerne zu.

Ovtcharov war nicht vorgesehen für diese Partie, auch wenn der Klubchef ihn gern im Duell mit Boll erlebt hätte. Doch ihre Russen sollen Bundesliga-Einsätze bekommen, wenn sie schon keine Turniere spielen dürfen, das ist dem Verein wichtig. "Sie müssen diese Zeit irgendwie überstehen", sagt Ebner, "dazu brauchen sie unsere Unterstützung."

Als klar war, dass die vier zumindest auf Vereinsebene weiterhin auch international antreten dürften, hat Ebner sie quasi als zweite Mannschaft noch für den Europe Cup gemeldet, den zweiten europäischen Teamwettbewerb, wo sie am Donnerstag in der dritten Runde antreten werden. Sie seien dankbar, sagt Katsman.

"Natürlich gibt es Tage, an denen du dich nicht motivieren kannst."

Gegen Düsseldorf gab es dann eine 0:3-Niederlage. Lin, der Weltranglistenachte, nahm als Einziger aus dem Champions-League-Kader auch an der TTBL-Partie gegen die Borussia teil und musste bei seiner 2:3-Niederlage erfahren, dass Boll (der durchaus ein bisschen auf Ovtcharovs Mitwirken gehofft hatte) aktuell in blendender Verfassung ist. Katsman hielt nur in den ersten beiden Sätzen mit Anton Källberg mit. Er habe ordentlich gespielt, aber seine Chancen nicht genutzt, sagte er später. Und Sidorenko bekam im Duell der 20-Jährigen von Kay Stumper die Grenzen aufgezeigt. Vergangene Saison trat Stumper noch für Neu-Ulm an, inzwischen hat er einen großen Sprung gemacht. Im Oktober gewann er mit dem deutschen Nationalteam WM-Silber in China. Sidorenko hat in dieser Zeit, nun ja: trainiert, was sonst. Wie sich das wohl anfühlt? Für einen, der sich zu Schülerzeiten in Finals noch mit Truls Moregardh maß, dem heutigen schwedischen Superstar?

Es sei nie der Plan gewesen, dass sich hier eine rein russische Gruppe bildet, erzählt Trainer Dmitrij Mazunov. Es habe sich so ergeben. Vielleicht ist das nun Glück im Unglück, weil die vier dasselbe Los teilen. In zwei WGs wohnen sie zusammen, verfolgen die internationalen Auftritte der Konkurrenz und leiden dabei, wie Mazunov weiß. Sie können ihre Familien nicht besuchen, die Freundin, weil Heimatbesuche zurzeit zu riskant sind.

Also bereiten sie sich auf die wenigen Einsätze vor, die sie haben im Schatten der Ovtcharovs und Harimotos, und sie klammern sich an die Hoffnung, dass der Krieg aufhört und sie dann wieder richtig loslegen dürfen. Bis dahin helfen sie sich gegenseitig aus jenen Löchern, in die sie manchmal fallen. "Natürlich gibt es Tage, an denen du dich nicht motivieren kannst", sagt Katsman. Dann ist auch Trainer Mazunov besonders gefordert.

Der 51-Jährige kam vor 30 Jahren aus Russland, gründete hier eine Familie - die den Jungprofis nun auch deren eigene Familien ein bisschen ersetzen muss. Schon als Teenager lebten bis auf Artemenko alle in Deutschland, sie kamen wegen der besseren Trainingsbedingungen. Wenn er zurückblicke, seien das die ersten russischen Toptalente, die aus freien Stücken diesen mutigen Weg so früh gegangen seien, sagt Mazunov, selbst einst ein Spitzenspieler. Sidorenko hat er 2020 aus Ochsenhausen mitgebracht, irgendwann trainierten sie alle hier. Und mussten noch ein wenig durchs Leben geführt werden, jung und ohne Sprachkenntnisse "in einer fremden Welt", wie Mazunov sagt. "Inzwischen sind sie selbständiger."

Und trotz allem, sagt er, wüssten "die Jungs" ihre Lage ganz gut einzuordnen, was ihnen auch dabei helfe, weiterzuarbeiten - und sogar Spaß dabei zu haben. "Ihre Situation ist sicher nicht die schlimmste", sagt Mazunov. Der Krieg bringe es mit sich, dass Menschen litten, die nichts dafür könnten - und die meisten sicher weit mehr als seine Sportler. Außerdem seien sie noch jung, auch das mache es leichter. "Mit 30 hätten sie jetzt sicher das Gefühl, ihnen läuft die Zeit davon."

Ein bisschen bedauert es Mazunov, dass sie der großen Kulisse nicht mehr bieten konnten als das 0:3 gegen den Favoriten Düsseldorf. Aber auch da gibt es Schlimmeres. "Natürlich willst du performen und zeigen, was du kannst", sagt Katsman, "in den wenigen Minuten, die du hast", in einer Liga voller Weltklassespieler. "Du kannst weiterkämpfen oder aufgeben." Sie wollen bereit sein. Beim Warmspielen soll es nicht bleiben.

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