Hörspiel "Die Entflohene":Pariser Abende

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(Foto: Illustration: Stefan Dimitrov)

Ulrich Lampen setzt die Marcel-Proust-Hörspielserie von SWR und DLF fort mit einem nüchternen Blick auf das Begehren.

Von Stefan Fischer

Das Überwölbende, alles unter seinem Dach Vereinende spielt keine Rolle bei diesem Hörspielprojekt, und der Titel Die Suche nach der verlorenen Zeit taucht programmatisch gar nicht erst auf. Es gehe darum, so erklärt es der Hörspiel-Dramaturg Manfred Hess, die Eigenständigkeit der einzelnen Teile dieses Romanzyklus von Marcel Proust herauszustreichen. Und auch darum, mögliche Schwellenangst abzubauen. Die Suche nach der verlorenen Zeit ist ein monströses Werk, rund 5000 Seiten lang. Das schreckt erst mal ab, auch Wohlmeinende.

Die einzelnen sieben Romane funktionieren jeder für sich, das will diese Serie von SWR und Deutschlandfunk belegen. Um sie voneinander zu emanzipieren, liegt die Realisation als Hörspiele auch nicht in immer denselben Händen. Wechselnde Regisseure, Schauspielerinnen und Schauspieler erschaffen eine je eigene Tonalität.

Ulrich Lampen nun hat den sechsten der sieben Romane inszeniert, Die Entflohene. Das ist Albertine, die eine Zeit lang mit der Erzählerfigur Marcel in Paris zusammengelebt hat. Eine Amour fou, aus der sie sich nun gelöst hat. Vorübergehend jedenfalls. Die Erzählung folgt vor allem ihm, der sie gerne zurückhätte. Aber Marcel ist kein Mann der klaren Worte. Vielmehr gibt er sich in seinen Briefen an Albertine kühl, weil er glaubt, so ihr Verlangen nach ihm am besten anstacheln zu können.

Felix Goeser und Laura Balzer spielen dieses Nicht-Paar. Beide Figuren stellen eine Selbstsicherheit zur Schau, über die sie meistens nicht verfügen. Sie sind Gefangene gesellschaftlicher Konvention am Beginn des 20. Jahrhunderts, aus denen sie sich herauszuwinden versuchen und denen sie doch nicht vollständig entrinnen können.

Marcel allerdings wagt sich weit vor in seinen Fantasien und auch in seinen Unternehmungen. Er ist geprägt von seinem sexuellen Begehren, das homoerotische Gefühle und voyeuristische Lust einschließt. So erfreut er sich an der Vorstellung, Albertine während einer lesbischen Verführung zu beobachten. Er unternimmt sogar den Versuch, einer solchen Szene - allerdings ohne Albertine, die sich nicht in der Stadt aufhält - beiwohnen zu dürfen. Was ihm abgeschlagen wird. In noch größere Schwierigkeiten bringt er sich, indem er junge Mädchen mit auf sein Zimmer nimmt. Nicht in sexueller Absicht, so sagt es Marcel, der Erzähler. Aber man weiß nicht genau, wie weit man ihm da trauen darf.

Die Inszenierung all dessen ist sehr zurückgenommen, sie ist gerade nicht voyeuristisch, eher sezierend kühl. Und wittert die Gefahr, in der Marcel steckt und die er für andere darstellt in seiner wenig gefestigten Haltung moralischen Fragen gegenüber. Der Roman könnte auch Der Entflohene heißen, wegen eines Helden, der vor sich selbst flieht. Dabei aber nicht weit kommt.

Die Entflohene, SWR 2, 19. November 2022, 23.03 Uhr. Teil 2 am 26. November.

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