Olympia in Vancouver:Die Kakerlake als Maskottchen

Vor Beginn der Olympischen Spiele wird deutlich, unter welch unwürdigen Umständen im strahlenden Vancouver die Armen leben.

Holger Gertz

Harri de Wijze ist der Fackelträger an diesem Tag, aber weil seine Olympische Fackel so unhandlich ist, ein Zwei-Meter-Monstrum aus lackiertem Pappmaché, trägt er sie nicht. Er hat sie auf einen Rollwagen gestellt. Harri de Wijze ist der Fackelschieber.

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(Foto: Foto: dpa)

Mit ein paar anderen hat er die Bewegung Poverty Olympics gegründet und diesen Fackellauf organisiert, er war schon überall in Vancouver, jetzt steht er vorm Eingang des Park Royal Shopping Center, tief im Westen der Stadt. Gute Gegend, entsprechende Kundschaft: braungebrannte Männergesichter, Frauenfrisuren wie aus Beton gegossen. Die Fackel brennt nicht, dafür haucht de Wijze kleine Atemwölkchen in die Luft. Er hängt der Fackel ein Schild um, damit die Leute, die vorbeikommen, auch wissen, worum es geht.

"End poverty": Schafft die Armut ab. Wenn man genauer hinschaut, sieht die Fackel aus wie eine dieser brennenden Tonnen, neben denen Obdachlose sitzen, um sich zu wärmen. Manchmal kommen solche Bilder in den Nachrichten, wenn über Armut in amerikanischen Großstadtghettos berichtet wird oder in Russland.

Vancouver ist dagegen vom Economist ein paarmal nacheinander zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt worden. Vancouver ist sehr grün, überall Seen, Parks, Brücken, in den Glasfassaden der Wolkenkratzer spiegelt sich der Himmel. Armut sollte eigentlich kein Thema in Vancouver sein, aber Harri de Wijze, dünner Bart, langes Haar, sagt, man müsse nur ein paar Kilometer reinfahren, Downtown Eastside, da leben die Drogensüchtigen, die Obdachlosen, die Flaschensammler und die, deren Habe in eine Plastiktasche von GAP passt.

Vancouver hat die Gestrandeten immer angelockt, es ist auch im Winter so mild, dass man ohne Wohnung nicht dauernd fürchten muss zu erfrieren. Vancouver ist auch ein guter Platz für Kiffer, die Strafen für Cannabisbesitz sind nicht so hart wie in Amerika, der Anbau der Pflanzen ist trotzdem verboten. Die Polizei hat zuletzt einige Bürger aufgespürt, Rentner waren dabei, die Marihuanaplantagen in ihrem Keller angelegt hatten.

Vancouver, sagt Harri de Wijze, war also immer auch ein Ort, an dem man seinen Halt verlieren konnte. Er hat ein paar Jahre Sozialarbeit in Downtown Eastside gemacht, lange genug, um zu merken, "dass die Lage sich nicht entspannt, im Gegenteil".

Gut 2000 Menschen leben im Großraum Vancouver auf der Straße, in Downtown Eastside sind 30 Prozent der Leute mit dem HI-Virus infiziert, die Quote entspricht ungefähr der von Großstädten in Afrika. Deswegen ist er jetzt da mit der Fackel und dem Schild und seinen Flugblättern. Noch ein paar Tage, dann fangen die Spiele in Vancouver an: "Bei der Gelegenheit wollen wir die Verantwortlichen an ihre Zusagen erinnern."

Eine Aids-Quote wie in Afrika

Um die Spiele zu kriegen, hatten die Stadt Vancouver und die Provinz British Columbia versprochen, einiges zu ändern. Erschwingliche Wohnungen für die Armen wollte man bauen, die Appartements im Olympischen Dorf zum Beispiel könnten nach den Spielen entsprechend genutzt werden. Inzwischen sieht es so aus, als wären die neuen Wohnungen nur für den Mittelstand von Vancouver bezahlbar.

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Die Obdachlosen sind immer noch obdachlos, die Bettler betteln - manchmal steht einer am Bahnhof "Waterfront Station". Die Stadt, die das Problem nicht in den Griff bekommen hat, tut immerhin nicht so, als hätte sie es im Griff - im Gegensatz zu Atlanta und Peking, wo pünktlich zur Eröffnungsfeier die Lumpenmenschen unsichtbar gemacht und hinter die Stadtgrenzen oder werweißwohin verfrachtet wurden.

Harri de Wijze ist keiner dieser verbissenen Weltverbesserer, er ist ein Reisender: in Holland geboren, gelernter Handwerker, lange in Indien gewesen. Er mag Vancouver, die Lässigkeit der Menschen. Wer gern in Amsterdam ist, fühlt sich hier auch wohl. Er will das Problem nicht zu hoch hängen, das käme ihm anmaßend vor. In Peking 2008 ging es um etwas noch Größeres. Häuser wurden abgerissen, weil die Stadien Platz brauchten; Bewohner, die dagegen protestierten, wurden eingesperrt, Menschen verschwanden. "Verglichen damit sind unsere Probleme klein", sagt er, aber die Strukturen sind ähnlich.

Versprechen sind vergessen

Die Chinesen hatten versprochen, die Menschen besser zu behandeln, sie wollten die Spiele, und als sie sie hatten, galten die Versprechen nichts mehr. Man lügt, weil man etwas will. "Ist das nicht alles sehr ernüchternd?", fragt Harri de Wijze. Inzwischen studiert er übrigens Philosophie und sitzt gerade an seiner Abschlussarbeit.

Alles, was die Organisatoren von "Poverty Olympics" tun und planen, steht auf einer übersichtlich geordneten Website, die heftig angeklickt wird im Moment. Sie haben auch drei Maskottchen: Chewy die Ratte, Creepy die Kakerlake, Itchy die Wanze. Das Fernsehen war schon da, auch das aus dem Ausland. Es ist eine vernetzte Welt: Was verborgen bleiben soll, wird sichtbar, das war in Peking so und ist es jetzt auch in Vancouver. Auf kleinerer Flamme, natürlich.

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