Argentinien bei der Fußball-WM:Umzingelt von Angst und Mexikanern

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"Wir waren dazu verdammt zu gewinnen": Die Erleichterung Lionel Messis nach dem Sieg im zweiten WM-Spiel zeigte sich auch in Tränen. (Foto: Ulmer/Teamfoto/Imago)

Nationaltrainer Lionel Scaloni wagt gegen Mexiko eine Revolution. Dass sein Plan aufgeht, hat viel mit einer Idee von Lionel Messi zu tun, der so reif ist wie nie - und nach dem 2:0 tief blicken lässt.

Von Javier Cáceres, Lusail

Als Lionel Messi gegen Mexiko traf und zum Erlöser Argentiniens wurde, weil er den 2:0-Sieg in die Wege geleitet hatte, brach sein Idol in sich zusammen: Pablo Aimar, ein ehedem feiner, kleiner Fußballer, der in seinen Füßen Magie trug und seit einigen Jahren als Assistent von Argentiniens Nationaltrainer Lionel Scaloni arbeitet. Aimar schlug die Hände vors Gesicht, auf dass niemand seine Tränen sehe, die nichts anderes waren als solche der Erleichterung über die Beerdigung der Angst. Aimar rang nach Luft wie jemand, der gerade dem Tod ins Auge geblickt hatte.

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60 Meter Luftlinie weiter bot sich ein ähnliches Bild, mit dem Unterschied, dass dort, hinter der Grundlinie vor der Tribüne mit den Fans der Argentinier, die Spieler im weißblauen Trikot in eine der innigsten Umarmungen der WM-Geschichte fielen. Und es gehörte nur wenig Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass auch Messi die Tränen in die Augen geschossen waren. De facto gab es Menschen, die von Nahaufnahmen sprachen, auf denen genau das zu sehen gewesen sei: Tränen des Glücks in den Augen Messis darüber, dass man nach der 1:2-Niederlage gegen Saudi-Arabien aus dem Auftaktspiel am Leben geblieben war. Ja, am Leben. Denn wenn es einen Ort gibt auf dieser Welt, wo das alte Adagio von Bill Shankly gelebt wird, der behauptete, Fußball sei mehr als eine Frage von Leben und Tod - dann ist es Argentinien.

Das Unterfangen von Sisyphus muss einfacher gewesen sein

Stunden später, als Argentiniens Nationalcoach Lionel Scaloni im Pressesaal saß, wurde er gefragt, was er auf der Bank zu Aimar gesagt habe. Hinter vorgehaltener Hand, um die Lippenleser auszumanövrieren, hatten Scaloni und der zweite Assistent, Walter Samuel, auf Aimar eingeredet. Scaloni hatte selbst versucht, die eigenen Tränen zurückzuhalten, aber sowohl nach dem Treffer zum 2:0-Endstand waren sie in seine Augen geschossen als auch jetzt, bei der Pressekonferenz. Scaloni verriet nicht, was er gesagt hatte. Sondern er lud die Journalisten dazu ein, seinen Überlegungen zu folgen. Sprich: zu verstehen, was es heiße, "hier zu sein" in Katar, und die Last der Verantwortung an 24 Stunden aller sieben Tage der Woche auf den eigenen Schultern zu spüren.

Es ist offenkundig nicht so einfach.

"Man sollte etwas mehr gesunden Menschenverstand walten lassen und sich daran erinnern, dass es nur ein Fußballspiel ist", warb Scaloni, ehe seine Stimme brach. "Mein Bruder hat mich angerufen und sagte mir, dass er in Córdoba weinend aufs Land gefahren ist, weil er sich das Spiel nicht anschauen konnte. Das darf nicht sein", fügte er hinzu, "wir müssen das korrigieren."

Tränen nach dem Sieg, der Argentinien im Turnier hält: Nationaltrainer Lionel Scaloni weiß um die Bedeutung dessen für die Fans in der Heimat. (Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

Es ist nicht das erste Mal, dass er derlei zum Thema Druck sagte. Eigentlich hatte er die leise Hoffnung gehabt, seine Landsleute hätten vor der WM das Gift ausgeschwitzt, das dazu führt, dass Millionen Argentinier nur den Sieg zu honorieren wissen, nie den loyalen Kampf um eine gute Leistung. Aber das Unterfangen von Sisyphus - den Stein den Berg hinaufzurollen, nur um immer neu anzufangen - muss einfacher gewesen sein, als sich in Argentinien in Volkspädagogik zu üben: "Es ist schwer, den Menschen begreifbar zu machen, dass morgen die Sonne aufgeht - egal, ob du gewinnst oder verlierst. Und dass nur das Wie wichtig ist."

Das Wie war diesmal wahrlich bemerkenswert: Scaloni hatte gegen Mexiko eine Revolution gewagt und die Startelf auf fünf Positionen verändert. Der entscheidende Zug, damit dieser Plan aufging, entstand jedoch im Kopf von Leo Messi, wie Ángel Di María später berichten sollte. Eine Stunde lang war Messi umzingelt - von Angst und Mexikanern. Bis sich die Szene bot, die Messi ersonnen hatte, und die für die Argentinier wie eine Oase in der Wüste war.

Auch Messi hat die Gesamtlage mitgenommen

Messi, erzählte di María, habe ihm in der Halbzeit gesagt, er solle ihn exakt dort anspielen, wo er den Ball in der 64. Minute bekam, um einen immer fester werdenden Knoten zu zerschlagen: Gut 25 Meter vor dem gegnerischen Tor. "Die stellen sich tief rein, wenn wir den Ball haben", hatte Messi gesagt.

Es war ein guter Plan. Weil es immer oder immer noch ein guter Plan ist, Messi den Ball zu geben, wenn man nicht mehr weiterweiß. Und es begab sich, dass Messi zum ersten Mal in der Partie exakt die Zeit und den Raum hatte, um das Bein durchzuladen und einen Schuss abzusetzen, der unten rechts einschlug, genau neben dem Pfosten. Mexikos Torwart Guillermo "Memo" Ochoa streckte sich vergebens. Die Behauptung, er habe Messi einen großartigen Ball zugespielt, wies Di María zurück: "Ich habe ihm einen Kackhaufen hingeworfen, und er hat es wie immer gelöst." Di María dankte später dem Leben dafür, neben Messi spielen zu können. "Ich habe keine Worte mehr, um es zu beschreiben: Ich habe das Glück, mit ihm in einem Klub zu spielen (Paris Saint-Germain), und bin seit 14 Jahren mit ihm in der Nationalmannschaft zusammen. Für mich ist Leo alles", sagte der 34-Jährige.

Dieser Leo des Jahres 2022 ist im Alter von 35 der vielleicht reifste und mitteilsamste Messi jemals. Doch auch ihn, der Milliarden Schlachten, Siege und dramatische Niederlagen erlebt hat, hatte die Gesamtlage mitgenommen. Als er noch angefüllt war vom 2:0, das der eingewechselte und brillante Enzo Fernández (Benfica Lissabon) mit einem grandiosen Schuss in den Winkel hergestellt hatte, unterlief ihm ein Lapsus, der tief blicken ließ.

Doch noch einen Weg durch die mexikanische Abwehr gefunden: Es ist noch immer ein guter Plan, den Ball Lionel Messi zu überlassen. (Foto: Richard Heathcote/Getty Images)

Dass man angefangen habe, besser als der Gegner zu sein, als man ruhiger gespielt habe, das erzählte auch er. Doch während der 35-Jährige das erzählte, setzte er zu einem "cag...(ado)" an, "Schiss haben", ehe er sich korrigierte und das abgebrochene Wort in ein "calmado" verwandelte - "calmado" wie "gelassen". Freud hatte also grüßen lassen. "Wir waren dazu verdammt zu gewinnen, und es ist schwierig, unter solchen Bedingungen zu spielen", sagte Messi, der nun genauso viele WM-Spiele (21) wie der vor zwei Jahren verstorbene Diego Maradona aufweist - und genauso viele Tore (acht).

Andererseits: Wer sollte besser darauf vorbereitet sein, von der Hand in den Mund zu leben, als die Argentinier, die seit Jahrzehnten in einem Dauerzustand galoppierender Inflation und damit von der Hand in den Mund leben. So wie diese argentinische Nationalelf, die am Leben geblieben ist und sich nicht entspannen kann, nur noch Finals vor sich hat. Ein Sieg gegen Polen wird zum Weiterkommen reichen, ein Unentschieden nur unter Umständen. Eine neuerliche Niederlage hingegen würde die Heimreise bedeuten. Und Messi endgültig zum Unvollendeten machen, zum Erben Maradonas ohne Weltpokal. "Wir müssen jetzt wieder gewinnen", sagte Lionel Messi. "Gewinnen, um unser Ziel zu erreichen."

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