SZenario:Sonne in der Finsternis

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Geschwister-Scholl-Preis für Andrej Kurkow: Der ukrainische Schriftsteller (Mitte) bekommt die Urkunde überreicht von Katrin Habenschaden, Zweite Bürgermeisterin der Stadt München, und Klaus Füreder, Vorsitzender des bayerischen Landesverbands im Börsenverein des Deutschen Buchhandels. (Foto: Stephan Rumpf)

Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow erhält in der Großen Aula der Universität den Geschwister-Scholl-Preis - und erinnert in einer bewegenden Rede auch an die Bedeutung der Weißen Rose für die Gegenwart.

Von Antje Weber

Von der Dunkelheit zum Licht: Über den Geschwister-Scholl-Platz, nur an seinen Rändern von Laternen gesäumt, streben an diesem Montagabend viele Menschen dem hell erleuchteten Hauptgebäude der Ludwig-Maximilians-Universität zu. Verlegerinnen, Buchhändler, Schriftstellerinnen und Politiker eilen über den Lichthof, in den Sophie und Hans Scholl einst ihre Flugblätter warfen, und füllen die Große Aula bis fast auf den letzten Platz - es gilt schließlich, den politisch relevantesten und am weitesten ausstrahlenden Preis der Stadt München und des bayerischen Landesverbands des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zu feiern.

Der Geschwister-Scholl-Preis zeichnet jährlich ein Buch aus, das "von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben". Dass der diesjährige Preisträger, der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow, mit seinem "Tagebuch einer Invasion" (Haymon) diese Kriterien überzeugend erfüllt, steht außer Frage. Eher schon bewegt manche Gäste, die Kurkow bereits bei der Eröffnung des Literaturfests erlebt hatten, die leise Frage: Wird es ihm keine zwei Wochen später gelingen, eine weitere so eindrucksvolle Rede zu halten? Um das gleich zu beantworten: Es wird ihm bestens gelingen. Und er wird spüren lassen, wie wichtig das Vermächtnis der Geschwister Scholl für ihn ist - und nicht nur für ihn.

An welch historisch aufgeladenem Ort man sich befindet, macht zunächst einmal auch LMU-Vizepräsident Oliver Jahraus in seiner Begrüßung deutlich. Er erinnert an den 18. Februar 1943, an dem die Mitglieder der Gruppe Weiße Rose ihr letztes Flugblatt im Lichthof abwarfen, als "Sternstunde", die sich mit deren Verhaftung "schlagartig in die dunkelste Stunde" der Uni verwandelt habe. Er erinnert aber auch an den 16. Dezember 1946, als in der Großen Aula zum ersten Mal der Bayerische Landtag tagte und damit "die Demokratie begann".

Die Große Aula im LMU-Hauptgebäude ist bis fast auf den letzten Platz gefüllt. (Foto: Stephan Rumpf)

Die Ukraine steht derzeit nicht nur als Demokratie, sondern als ganzes Land samt seinen Menschen unter schwerem Beschuss, in einem von Russland aufgezwungenen Krieg. Wohl selten habe uns das Thema eines hier gewürdigten Buches "so unmittelbar erfasst" wie diesmal, sagt die Zweite Bürgermeisterin Katrin Habenschaden. Sie würdigt Kurkows Chronik als Beitrag, die Ukraine der Welt verständlicher zu machen - und hofft, dass man in Deutschland "eine konzertierte und nachhaltige Zukunftsstrategie" entwickele, um der Ukraine zum Erfolg gegen den Aggressor zu verhelfen und das Land "fest in die europäische Familie der werteorientierten Demokratien zu integrieren".

Wie wichtig in diesem Zusammenhang Wissen und Bücher sind, macht neben Habenschaden auch Klaus Füreder als Vorsitzender des Börsenverein-Landesverbands deutlich. Literatur wie die Chronik Kurkows könne "ein Erfahrungswissen in seiner ganzen Unmittelbarkeit vermitteln", gleichzeitig begegne sein Buch systematisch dem "durchsichtigen Versuch der Geschichtsfälschung seitens Russlands". Und Füreder benennt die "Risiken", die auch Kurkow selbst mit seinem unermüdlichen aufklärerischen Einsatz eingeht: "Sollte Russland die Macht übernehmen", so zitiert er den Autor, "wird es eine weitere hingerichtete Generation ukrainischer Schriftsteller und Politiker, Philosophen und Philologen geben".

Doch: "Andrej Kurkow gehört zu denen, die an das Wort glauben", bekräftigt die SZ-Redakteurin Sonja Zekri als Laudatorin. Sie benennt als Fehler, dass Europa die Ukraine nicht bereits vor dem 24. Februar stärker wahrgenommen habe; sie umkreist Kurkows Rolle als russischsprachiger Autor in einem Land, in dem das lange unterdrückte Ukrainische zur "Sprache des Widerstandes" geworden sei. Und sieht seinen "intellektuellen und ästhetischen Mut" vor allem dort, wo er in einer Zeit der Polarisierung und Propaganda auf "geistiger Unabhängigkeit" bestehe; in einem Patriotismus, der sich aus der Sehnsucht nach Freiheit speise: "Die Ukraine hat mir 30 Jahre Leben ohne Zensur, ohne Diktatur, ohne Kontrolle über das, was ich schreibe und sage, gegeben", zitiert sie Kurkow: "Dafür bin ich meinem Land unendlich dankbar."

Die berührendsten Worte findet an diesem Abend Andrej Kurkow selbst. (Foto: Stephan Rumpf)

Die bewegendsten Worte an diesem Abend findet Andrej Kurkow selbst, mit einer Rede, die zwischen Hell und Dunkel oszilliert. Einem hell erleuchteten Europa stellt er einen schwarzen Flecken Ukraine gegenüber, in dem die Menschen derzeit in Dunkelheit und Kälte in ihren Küchen sitzen. "Leider wiederholt sich die Geschichte viel zu oft", sagt er und erinnert an den Sturm Kiews durch den bolschewistischen General Michail Murawjow im Jahr 1918. Die Gewalt von damals vergleicht Kurkow mit der Gewalt und dem Terror von heute. Trotz allem planten die Ukrainer weiterhin die Zukunft, die Restaurierung von Bibliotheksruinen etwa. Russland werde es nicht schaffen, die Geschichte der Ukraine zu stehlen und zu zerstören: "Die Geschichte der Ukraine gehört der Ukraine."

Und die Geschichte wiederhole sich nicht in allem, stellt Kurkow fest: Anders als 1918 seien die Ukrainer heute bereit, die Unabhängigkeit ihres Landes zu verteidigen. Er verdeutlicht das mit einem Beispiel: Während der neunmonatigen Besetzung Chersons habe in der Stadt die Untergrundorganisation "Gelbes Band" operiert. Deren Mitglieder, darunter viele Frauen, hätten jeden Tag unter hohem persönlichem Risiko patriotische Flugblätter und Plakate verteilt, russische Propagandazeitungen verbrannt oder Graffiti an die Häuser gesprüht. Kurkow erinnern solche Aktionen an den einstigen Widerstand der Geschwister Scholl. Diese hatten "die Wahl zwischen Konformismus und dem Kampf für ein anderes, demokratisches, vor allem freies Deutschland", sagt er. "Sie entschieden sich für den Kampf. Mit friedlichen Mitteln versuchten sie, die deutsche Gesellschaft mit Worten zu erreichen."

Im berühmten Lichthof, in den Sophie und Hans Scholl einst ihre Flugblätter warfen, diskutieren die Gäste nach der Preisverleihung beim Empfang. (Foto: Stephan Rumpf)

Heute würden die Ukrainer unter anderem von der Weißen Rose lernen, dem "Bösen und Unrecht zu widerstehen", so Kurkow. Und bevor der Schriftsteller mit Standing Ovations gefeiert wird, bevor die Gäste beim Empfang im Lichthof über die Reden und die Weltlage diskutieren, zitiert er noch einmal Sophie Scholl. "Die Sonne scheint noch", soll sie vor ihrem Tod gesagt haben. Mit lauter, fester Stimme fügt Andrej Kurkow hinzu: "Die Sonne scheint immer noch und wird immer scheinen. Auch im Dunkeln. Sonne der Hoffnung. Die Sonne, die täglich die Dunkelheit besiegt."

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