Lenggries:"Radikal regional" für alle

Lenggries: Melanie Bock (links) und Tanja Bossert bestücken die Gemüsekisten für die 450 Bezieher der Genossenschaft.

Melanie Bock (links) und Tanja Bossert bestücken die Gemüsekisten für die 450 Bezieher der Genossenschaft.

(Foto: Manfred Neubauer)

Die solidarische Landwirtschaft Biotop Oberland versorgt Familien, Singles und Rentner, Radler und SUV-Fahrer. Am neuen Hofpunkt können auch Nicht-Mitglieder Bio-Gemüse, Eier und Fleisch einkaufen.

Von Petra Schneider, Lenggries

An sein Schlüsselerlebnis kann sich Sebastian Girmann noch genau erinnern: In der Biogärtnerei, in der er damals arbeitete, wurden Schubkarrenladungen voller Zucchini vom Feld direkt auf den Komposthaufen gefahren. Die Qualität war einwandfrei, aber die Zucchini waren zu groß und entsprachen nicht der Norm. Girmann und seine drei Mitstreiter wollten es anders machen: Sie wollten sich frei machen von den Zwängen und dem Preisdruck des Marktes, der die Löhne drückt. Sie wollten nicht hinnehmen, dass fast 30 Prozent der Erträge weggeworfen werden, weil Supermärkte keine krummen Gurken oder Karotten mit zwei Beinen nehmen. Ihr Ziel war ein ökologisch und sozial sinnvolles Wirtschaften, bei dem Verbraucher und Erzeuger wieder näher zusammen rücken. Also gründeten sie 2015 die genossenschaftlich organisierte Biogärtnerei "Biotop Oberland" in Bad Heilbrunn und zogen 2018 nach Lenggries um, weil sie am Steinbach größere Anbauflächen mit langfristigeren Pachtverträgen bekamen.

Dass man sie als "Idealisten" bezeichnet, mag Girmann nicht besonders. Das klinge ihm zu sehr nach Chaos, sagt der Gartenbauingenieur. "Wir wollten es professionell angehen und so, dass es wirtschaftlich tragfähig ist." Sieben Jahre ist das her, und das "Biotop Oberland" gedeiht prächtig. Auf einer Freilandfläche von 1,6 Hektar und in sechs Gewächshäusern wachsen über das Jahr etwa 50 Gemüsekulturen und 120 Sorten. Draußen ist schon fast alles abgeerntet, Lauch, Rosenkohl, Wirsing und Kohl stehen noch. In den Gewächshäusern gibt es momentan Endiviensalat, Blattspinat, Petersilie oder Rucola. Die Ernte wird wöchentlich aufgeteilt und an elf Stationen in Lenggries, Bad Tölz, Greiling, Bad Heilbrunn, Penzberg und Tutzing verteilt.

Lenggries: Im Lenggrieser Gewächshaus gedeiht der Spinat.

Im Lenggrieser Gewächshaus gedeiht der Spinat.

(Foto: Manfred Neubauer)

Eine Gemüsekiste kostet monatlich je nach Größe zwischen 48 und knapp 100 Euro. Nur wer Mitglied der Genossenschaft ist, kann eine Kiste beziehen. Dazu müssen Anteile im Wert von 150 Euro gezeichnet werden. Bei wichtigen Entscheidungen werden die insgesamt 650 Mitglieder einbezogen. 200 unterstützen das Projekt aus ideellen Gründen, die übrigen 450 werden jede Woche mit Biogemüse versorgt. Ein Maximum, denn mehr geben die Flächen in Lenggries nicht her. Die Nachfrage wäre allerdings deutlich größer: Auf der Warteliste stünden zurzeit 100 Anwärter, erklärt Girmann. "Dass das so einschlägt, habe ich nicht gedacht". Denn die Gärtnerei liege ja nicht im Einzugsbereich einer Großstadt.

Lenggries: Die Karotten dürfen bei Biotop Oberland wachsen wie sie wollen.

Die Karotten dürfen bei Biotop Oberland wachsen wie sie wollen.

(Foto: Manfred Neubauer)

Die Mitglieder gehören keiner bestimmten Gruppe an. Familien, Singles, Rentner, "Radler und SUV-Fahrer", sagt Gründungsmitglied Nick Fischer, "die komplette gesellschaftliche Bandbreite". Das sei auch gut so. "Wir wollen kein ideologisch-elitäres Projekt sein." Fischer ist eigentlich Produktmanager und hat in der Automobilindustrie gearbeitet. Dann holte ihn die "Sinnfrage" ein. Eine Antwort habe er beim Konzept der solidarischen Landwirtschaft gefunden.

Seit diesem Sommer gibt es ein neues Projekt, das die Genossenschaftsmitglieder ebenfalls aus eigenen Mitteln, ohne Kredite finanzieren: Im Juli wurde an der Obergrieser Straße der "Biotop-Hofpunkt" eröffnet, in dem etwa 500 Produkte im Selbstbedienungssystem verkauft werden und der auch Nicht-Mitgliedern offen steht. Milchprodukte, Fleisch, Eier, Mehl, Honig, Marmelade, Gewürze, Müsli, Obst und Gemüse - viele Bioprodukte und meistens von Erzeugern aus einem Umkreis von 35 Kilometern. "Wir sind radikal regional", sagt Andreas Süß, der vorher Klimaschutzmanager des Landkreises war und nun als Leiter des Hofpunkts bei der Genossenschaft angestellt ist. Auch dort gilt: Es gibt keine Gewinnerwartung, aber der Laden muss sich tragen. Um die Kosten möglichst niedrig zu halten, wird auf Verkaufspersonal verzichtet; Kundinnen und Kunden scannen ihre Waren an der Kasse selbst ein und zahlen bar oder mit Karte. Der Laden habe sich gut etabliert, sagt Süß, jeden Tag kämen um die 60 Kunden.

Lenggries: Die Selbstbedienung am neuen Hofpunkt nehmen täglich etwa 60 Kunden in Anspruch.

Die Selbstbedienung am neuen Hofpunkt nehmen täglich etwa 60 Kunden in Anspruch.

(Foto: Manfred Neubauer)

Insgesamt zehn festangestellte Mitarbeiter, die meisten in Teilzeit, arbeiten in Gärtnerei und Hofpunkt. Mitglieder können sich einbringen, es gibt "Mitgärtnertage" und Jugendprojekte. In Kooperation mit dem Verein Ökologische Akademie werden auf dem Gelände der Gärtnerei Projekte zum Thema Nachhaltigkeit für Schulklassen und Kindergärten angeboten. Auch für die Artenvielfalt setzt sich das "Biotop Oberland" ein: Seit Herbst werden 150 Obstbäume auf einer Fläche von 1,5 Hektar gepflanzt, die die Genossenschaft zusätzlich gepachtet hat. Es gibt Blühstreifen, die Nützlinge anziehen und Nistkästen für Greifvögel, die Mäuse aus den Äckern holen.

Lenggries: Tanja Bossert, Nick Fischer, Sebastian Girmann und Katerina Pohlova (von links) leiten die Genossenschaft.

Tanja Bossert, Nick Fischer, Sebastian Girmann und Katerina Pohlova (von links) leiten die Genossenschaft.

(Foto: Manfred Neubauer)

Dass das "Biotop Oberland" nun mit dem Umweltpreis des Landkreises ausgezeichnet wird, freut die Vorsitzenden. "Man sieht, dass wir wahrgenommen werden", sagt Girmann. Auch, wenn er sich auf der großen politischen Ebene mehr Einsatz für die Agrarwende wünscht. Fischer hofft, dass das Projekt Nachahmer findet und Landwirten zeigt, "dass es Alternativen gibt, die funktionieren".

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