SZ-Adventskalender:Javiers Geheimnis

Lesezeit: 4 min

Bevor Javier seine Ausbildung bei einer Münchner Bank begann, haben seine Eltern gespart, um ihm für den Berufseinstieg einen Anzug und Hemden kaufen zu können. (Foto: Stephan Rumpf)

Mit seinen Eltern und vier Geschwistern lebt der Auszubildende in einer Münchner Wohnungslosenunterkunft. Seine Kollegen in der Bank wissen nicht, wohin er abends zurückkehrt.

Von Andrea Schlaier

Nur ein einziges Mal während des langen Gesprächs wird Javier lachen. Es ist seine Reaktion auf die Frage, ob er sowas wie der Manager seiner Familie ist. Nach dem Lachen kommt dann auch noch eine Antwort: "Ja, kann man so sagen." Javier ist 16 Jahre alt. Ein ernsthafter und eloquenter junger Mann. Als er mit seinen Eltern und seiner Schwester im Winter vor sechs Jahren aus prekären Verhältnissen von Spanien nach München migriert, spricht der Junge kein einziges Wort Deutsch.

Die Familie kommt in ihrem ersten Winter an der Isar im Kälteschutzprogramm der Stadt unter und also weg von der Straße. Nächste Station ist die Wohnungslosenunterkunft - bis heute das Zuhause der Familie, die mittlerweile zu siebt ist. Tagsüber, wenn Javier mit Anzug und Hemd hinterm Schalter steht, sieht dem frisch gestarteten Azubi einer Münchner Bank kein Mensch an, wo und wie er lebt.

Er schämt sich nicht dafür. Aber trotzdem müssen es nicht alle wissen. Darum legt Javier Wert darauf, die Geschichte seiner Familie unter anderem Namen zu erzählen. Er tut dies an einem Werktag nach Feierabend, im Park neben der Wohnungslosenunterkunft am Rande der Stadt.

Es ist schon zappenduster, als er mit seiner Mutter an der Seite den Platz ansteuert, eine kleine Frau im weiten Kleid und mit Kopftuch überm Haar, neben ihr der hoch aufgeschossene Junge in schwarzer Jeans, schwarzem Anorak und weißen Sportlerschlappen über den Socken. Die beiden haben eigentlich fürs Gespräch in ihre zwei Zimmer in die Anlage geladen - aber die Security ist nicht informiert, Abstimmungsprobleme, kein Besuch mehr erlaubt, Gäste raus und also reden draußen vor der Tür. Sowas bringt Javier nicht aus der Ruhe.

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Er lehnt neben seiner Mutter am Geländer, für die er bis heute beim Dolmetschen hilft. Einer Frau, die immer wieder fragend den Blick ihres Sohnes sucht, der sie um zwei Köpfe überragt. Javier nickt kurz, wenn sie ihm was sagt, moderiert, übersetzt wie ein Regierungssprecher in sensibler Mission, der wägt, was nach draußen darf, was nicht. Hoch konzentriert führt der Jugendliche hier Chronik über die Stationen seiner gambisch-spanischen Familie und seine eigene gesellschaftliche Emanzipation.

Im April nach dem Kälteschutz-Winter zieht Javier mit den Eltern und damals noch einer Schwester in die erste Münchner Wohnungslosenunterkunft. Es ist dieselbe, in der sie seit ein paar Monaten wieder leben: auf zwei Zimmern, die nicht miteinander verbunden sind und mit drei Kindern mehr als am Anfang. Fünf, drei und ein Jahr alt sind die kleinen Geschwister. "Wir essen in unseren Zimmern, schlafen hier, verbringen hier die Zeit. "Wenn wir von einem Raum in den anderen wollen", erzählt der große Bruder, "müssen wir über den Flur." Zum Duschen müssen sie übers Treppenhaus einen Stock höher.

Trotz widrigster Umstände hat Javier eine schulische Blitzkarriere hingelegt

Besonders beschwerlich, meldet sich jetzt auch seine Mutter zu Wort, sei das Kochen in der entfernten Gemeinschaftsküche. Jeden Topf, jedes Gewürz, alles, was sie dafür braucht, muss sie vom Zimmer mitnehmen. "Das kann ich alles nur machen, wenn Javier oder mein Mann zuhause sind, weil ich die kleinen Kinder dann im Zimmer lassen muss." Der Familienvater arbeitet halbtags in der Gastronomie, "Geschirr waschen, manchmal ein bisschen kellnern oder Waren hochschleppen", erzählt der Sohn.

Es ist ein anstrengendes Leben. "In unserer jetzigen Unterkunft ist es oft laut und nicht immer sehr sauber." Trotz widrigster Umstände hat der gebürtige Spanier eine schulische Blitzkarriere hingelegt. Als er mit zehn in dieser Stadt ohne jede Sprachkenntnis landet, geht's zunächst an die Mittelschule, von dort in eine Übergangsklasse mit intensivem Sprachunterricht. "Nach einem Jahr konnte ich standardmäßig Deutsch und die haben gemerkt, dass ich halt doch gut in ein paar Fächern bin und dachten, es ist nicht schlecht, mich in die Realschule zu kriegen." Sprint-Programm nennen sie diesen Weg bei den Pädagogen. Der Name könnte für Javiers Entwicklung nicht treffender sein. Inzwischen hat er die Mittlere Reife gemacht und am 1. September seine Ausbildung zum Bankkaufmann begonnen.

Wo lernt ein Kind, das mit vier Geschwistern und den Eltern in zwei Zimmern lebt, spielt, isst und hier auch Freunde empfängt? Wo die herzkranke Schwester sich ausruht, der kleine Bruder unter epileptischen Anfällen leidet und die Mutter unter Asthma? Javier lauscht in den nächtlichen Park. Und zuckt mit den Schultern: "Ich konnte immer eineinhalb Stunden nach dem Unterricht in ein Lernstudio gehen." Für die Lehre zieht er sich in eine Bibliothek zurück. Die kleine Schwester macht im Hort Hausaufgaben und grundsätzlich gibt es schulische Hilfen auch in den Wohnungslosenunterkünften.

Hunderte Menschen bewerben sich auf die wenigen geförderten Wohnungen, die infrage kommen

Noch nie hatte die Familie eigene vier Wände. In Spanien lebte sie mit anderen Verwandten bei der Großmutter. Eine der wenigen Erinnerungen Javiers an diese Zeit: "Es war eine kleine Mietwohnung in einem sehr, sehr alten Gebäude. Wenn's geregnet hat, wurde die ganze Wohnung nass." Seit sie in München seien, suchten sie nach einer Wohnung. "Intensiv", sagt der Regierungssprecher der Familie, und wird sehr bestimmt: "Es ist nicht so, dass wir uns zurücklehnen und sagen, ja vielleicht kommt eine Wohnung auf uns zu." Auf "Sowon", der Online-Plattform für geförderte Wohnungen des städtischen Amts für Wohnen und Migration, würden große Wohnungen, die für sie in Frage kommen, seit Monaten nicht hochgeladen. Und wenn, dann bewerben sich Hunderte dafür. "Aber es kriegen immer andere."

Die Miete für ihre zwei Zimmer in der Wohnungslosenunterkunft sei sehr hoch, "dafür, dass wir in einer sehr schlechten Lage wohnen". Javiers Vater müsse 200 Euro von seinem Lohn dafür zahlen. Seit der älteste Sohn die Ausbildung begonnen hat, ist dadurch das Monatseinkommen der Familie gestiegen. "Das wird ja alles zusammen betrachtet. Ich muss praktisch mein ganzes Gehalt abgeben." Vom Kindergeld hätten die Eltern etwas angespart und damit dann Anzug und Hemden für die Banklehre angeschafft. Das Jobcenter bezahlt die Mitgliedschaft in seinem Fußballverein, bei dem Javier dreimal die Woche trainiert und gibt auch einen Zuschuss für Schuhe und Trikot.

"Unser größter Wunsch ist es", sagt Javier im Park nach kurzer Unterredung mit der Mutter, "dass jeder von uns seinen Raum und seinen Platz hat." Der etwas kleinere Wunsch: "Dass wir zusammen Ausflüge unternehmen und Spaß haben können, mal abschalten vom anstrengenden Alltag." Und einen größeren Schrank in der jetzigen Unterkunft, den könnten sie auch dringend brauchen. "Der ist so klein, dass ich Anzug und Hemden außen hinhängen muss." Javier hält in dieser Familie alle organisatorischen Fäden zusammen. "Ja", sagt die Mama an seiner Seite, "er ist unser Manager". Und der darf nicht in verbeulten Anzügen rumlaufen. Niemand von den Kollegen soll wissen, wo und wie Javier lebt.

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