SZ-Adventskalender:"Die Wohnungsnot ist in München in der Mitte der Gesellschaft angekommen"

SZ-Adventskalender: Vielen Wohnungslosen in der Stadt fehle die Perspektive, sagt Bezirkssozialarbeiterin Anja Kohnen.

Vielen Wohnungslosen in der Stadt fehle die Perspektive, sagt Bezirkssozialarbeiterin Anja Kohnen.

(Foto: Catherina Hess)

Selbst Menschen mit Einkommen und Familien finden oft kein Zuhause und fahren aus der Wohnungslosenunterkunft in die Arbeit oder zur Schule. Bezirkssozialarbeiterin Anja Kohnen erzählt vom Leben und der Scham dieser Menschen.

Andrea Schlaier

Die Eltern gehen zur Arbeit, ihre Kinder brechen morgens in die Kita und zur Schule auf, aber in die eigenen vier Wände kehrt abends keiner von ihnen zurück. Sie haben kein Daheim im herkömmlichen Sinne, sondern leben in städtischen Notunterkünften. Manche jahrelang. Knapp 5000 solcher Fälle von Familien und Alleinstehenden zählt das Amt für Wohnen und Migration im September. Anja Kohnen arbeitet bei der Behörde im Fachbereich Pädagogik als Bezirkssozialarbeiterin und erzählt von den Menschen, die selbst unter größten Mühen kein privates Zuhause finden. Und was das mit ihnen macht.

SZ: Frau Kohnen, wie viele wohnungslose Haushalte gibt es derzeit in München?

Anja Kohnen: Nach den aktuellen Septemberzahlen sind es insgesamt 8879 wohnungslose Personen. 550 sind im wahrsten Sinne obdachlos und leben auf der Straße, 832 sind sogenannte Fehlbeleger, also anerkannte Flüchtlinge, die aus Wohnungsmangel trotzdem in einer Flüchtlingsunterkunft bleiben, und dann kommen nochmal 1137 Ukrainerinnen und Ukrainer dazu, viele von ihnen sind in angemieteten Hotels untergekommen. Der Fachbereich Pädagogik, in dem ich tätig bin, ist für knapp 2500 Menschen zuständig, die in städtischen Beherbergungsbetrieben wie Notquartieren oder Clearinghäusern untergebracht sind.

Wer von der Gruppe der 2500 tut sich am schwersten, was Eigenes zu finden?

Besonders kinderreiche Familien, das beginnt bei zwei Kindern aufwärts. Es fehlt einfach an ausreichend großen, bezahlbaren Wohnungen. Alleinstehende haben auch große Schwierigkeiten, da ist das Angebot einfach zu gering.

Wie lange müssen diese Menschen in der Regel in einer Notunterkunft ausharren?

Die Verweildauer ist in den letzten zehn Jahren gestiegen. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass es länger als ein Jahr dauert, nicht selten auch zwei oder drei Jahre.

Das Amt für Wohnen und Migration hat als eigenes Instrument die Internet-Plattform Soziales Wohnen Online, Sowon, geschaffen, auf der sich Münchner und damit auch die in den Notunterkünften für eine geförderte Wohnung bewerben können. Wie funktioniert das?

Bei Sowon können die Bürgerinnen und Bürger online einen Antrag stellen. Vorher müssen sie die benötigten Dokumente hochladen, wie Gehaltsabrechnung, Aufenthaltstitel, Ausweis und erfahren dann, ob sie den Kriterien für eine Sozialwohnung entsprechen. Dann erhalten sie einen Registrierungsbescheid mit der Punktzahl, in der sich die Dringlichkeit widerspiegelt. Wohnungslosigkeit, Kinderzahl, Schwerbehinderung sind alles Faktoren. Sie bekommen auf dieser Online-Plattform Wohnungen angezeigt, die passend zur Haushaltsgröße sind und können sich bewerben. Die fünf mit der höchsten Dringlichkeit werden zu einer Besichtigung eingeladen. Die Entscheidung liegt dann beim Vermieter, in der Regel den städtischen Wohnungsgesellschaften Gewofag und GWG.

Viele Familien klagen, dass sie jahrelang trotz großer Dringlichkeit nicht zum Zug kommen.

Ja, das stimmt. In meiner Zuständigkeit ist eine siebenköpfige Familie, da gibt es kaum Wohnungen im Angebot, manchmal ploppt nur alle zwei Monate was auf, auf das sie sich bewerben kann. Gleichzeitig gibt es bei Alleinstehenden oder Familien mit zwei Kindern nicht selten ein paar hundert Bewerbungen auf eine Wohnung.

Der Frust ist gewaltig ...

... und sehr verständlich. Gerade bei Haushalten, die alles, was sie tun können, auch machen. Es fehlt die Perspektive. Die Leute sind traurig, verzweifelt, extrem belastet. Das für die eigene Familie kompensieren zu müssen ist schon eine riesige Hausnummer.

Was bedeutet es für diese Familien, oft keinen Rückzugsraum zu haben, weder eigene Küche noch eigenes Bad?

Das ist sehr belastend. Die Kinder haben von Anfang an weniger Entfaltungsmöglichkeiten, sie sind nie alleine, das ist anstrengend, gerade wenn sie älter werden. Ihnen fehlt auch ein Raum zum Lernen und Hausaufgaben machen. Für die Eltern ist es mit Scham verbunden, Freunde zum Kaffee in die Wohnungslosenunterkunft einzuladen oder in der Arbeit zu sagen, wo sie eigentlich leben.

Wie gehen Kinder mit dieser Ausnahmesituation um?

Das ist unterschiedlich. In der Schule und im Kindergarten geht es ja oft ums Zuhause. Dann wird klar, dass sie in einer anderen Realität leben. Sie schämen sich. Ich hatte eine Familie, deren Kinder sind zum Fußball gegangen und haben sich immer an anderer Adresse abholen lassen, damit es niemand merkt. Manche bringen keine Freunde mit nach Hause. Andere gehen ganz offen damit um.

Wie gehen Sie damit um?

Wir haben als Bezirkssozialarbeiterinnen auch das Wächteramt inne und erfüllen an der Stelle Jugendamtsaufgaben. Grundsätzlich legen wir großen Wert darauf, dass die Kinder nachmittags an die Hausaufgabenbetreuung angebunden werden. In den Unterkünften sind außerdem Erzieherinnen und Erzieher tätig, die bei den Hausaufgaben unterstützen und Freizeitangebote machen.

Ist für manche der Umzug in eine andere Stadt mit mehr Wohnraum eine Alternative?

Sehr selten. München ist ihr Zuhause, die Kinder gehen in Schulen und Kitas. Ganz oft ist auch Thema, dass sie hier ärztlich angebunden sind und vor allem Jobs haben. Ein großer Anteil der Betroffenen arbeitet, da gibt es in München mehr Angebote als anderswo. Unsere Haushalte entsprechen selten den Vorstellungen der Bezeichnung "Wohnungslose". Die Wohnungsnot ist in München in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

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