Neues Album "Telegramm":Haltung statt Rollenspiel

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Der harte Kern: Zu Nikko Weidemann, Severija Januskaite, Sebastian Borkowski und Mario Kamien kommen auf der Bühne noch zehn Musiker hinzu. (Foto: Joachim Gern)

Das Moka Efti Orchestra hat die Zwanzigerjahre-Serie "Babylon Berlin" verlassen und findet so neue Freiheiten für sein zweites Album "Telegramm".

Von Michael Zirnstein

Was hat der Hot Jazz der Weimarer Republik mit Techno zu tun, mit Frank Zappa, Yoko Ono, Rio Reiser, den Einstürzenden Neubauten oder Milky Chance? Wer all diese Musik hört, der fühlt, da gibt es eine Verbindung. Es gibt aber auch eine Person, in der all das kumuliert: Nikko Weidemann. Und daher schwingt auch all das in seinem Moka Efti Orchestra mit, dem Ensemble aus der Zwanzigerjahre-Erfolgsserie "Babylon Berlin".

Weidemanns Karriere im Zeitraffer: Noch vor dem Abitur zog es ihn 1979 in die USA, wo er Zappa vorspielte und beim California Institute of Arts, sein Vater wollte dieses Elite-Konservatorium aber nicht bezahlen, also zurück in den "Berliner Dilettantismus", wo Leute wie Blixa Bargeld, später Nena oder Rio Reiser staunten: "Der ist ja einer von uns, aber der kann auch Klavier spielen." Weidemann war auf dem Weg zu Großem, vielleicht, so schätzt er, war es sein Fehler, seine Bandnamen anders als die Toten Hosen zu oft zu wechseln: Aus Flucht nach vorn wurde Mad Romeo, als Nikko & The Passion Fruit machte er mit Guy Chambers und Moses Schneider in London ein Hit-Album, ein zweites, das er auf seiner weiteren Flucht in New York im Dunstkreis von John Lennons Liebsten aufgenommen hatte, erschien dann unter King Capsule.

"Was mich herausfordert, sind eben meine Neugier und meine Sucht nach Selbst-Neuerfindung", sagt Weidemann. So fand er auch zurück in Berlin, nach dem 11. September, wieder neue Partner wie Rufus Wainwright oder Christian Neander von Selig. Aber vor allem fand Weidemann Gefallen an der deutschen Filmgesellschaft, und die an ihm. Da könnte man jetzt wieder viel erzählen, von seinem Beitrag zu Fatih Akins Gegen die Wand oder von Kostüm- und Geburtstagsfesten, wo er die Filmleute mal mit Beatles, mal mit Space-Pop, mal mit Cole Porter zum Feiern brachte - allen voran Tom Tykwer. Der deutsche Regiestar stellte sich - gern auch mal im Spock-Outfit - zu den Musikern auf die Bühne und holte Weidemann, wie der sagt, "als Haus- und Hofbarden" in seine "dysfunktionale Filmfamilie", etwa für das Hollywood-Werk "Cloud Atlas".

Immer "in Character": Auch in den Konzerten sieht das Moka Efti Orchestra so aus, als wäre es der Serie "Babylon Berlin" entstiegen. (Foto: imago stock/Votos-Roland Owsnit)

Nikko Weidemann war also immer auch drin in der Regie-Denke. Das ist entscheidend, um das Moka Efti Orchestra zu begreifen. Für seine neue Idee "Babylon Berlin" bat ihn Tykwer nämlich nicht nur drum, mehrere exzellente Musiker für mehrere Spielorte wie eine Transvestiten-Bar oder eben den Tanzclub Moka Efti zusammenzustellen. Es wurden auch Historiker und Soziologen eingeladen, die dem Team in Vorträgen "die damalige Kultur einmassierten".

Und Weidemann gab das an seine Musiker weiter, etwa dass damals "die Leute wie die Tiere schuften" mussten, dass die Musik noch mehr als heute ein Ventil für den Druck in der Gesellschaft war, und dass sie überall von echten Könnern in Handarbeit gespielt werden musste. "Nicht als Kunst, es war eine Notwendigkeit." Natürlich gab es damals für Weidemann auch große Meister, wie Friedrich Hollaender, Pianist der Weintraub Syncopators, 1924 die wohl erste deutsche Jazzband. Weidemann begleitete mal Rio Reiser bei einem Hollaender-Projekt, und natürlich widmete er dem ein Stück auf dem ersten Moka-Efti-Album "Erstausgabe", das noch einige TV-Musik enthielt.

Die Serien-Fans wollten mit der Band aus dem Film auch live feiern wie im Film, viele kamen zu den Konzerten sogar kostümiert. Das 14-köpfige MEO lieferte die musikalische Droge dazu: Es geht um Ekstase am Abgrund, "Entgrenzung und Entspannung, alles, was gut ist in der Musik seit dem Hot Jazz", sagt Weidemann, "der Hot Jazz geht über in den Rock'n'Roll, der in den Punk oder Elektro, der in den Techno..." Wer will, hört das alles in der Untergangs-Hymne "Zu Asche, zu Staub", die Weidemann und sein Kompagnon Sebastian Borkowski nach Tykwers Wunsch verfasst hatten, Frankie Goes To Hollywood in die Zwanzigerjahre zu versetzen - inklusive Eighties-Baseline. Im Film, auf der Bühne und auch im Spirit auf der Platte blieb man bei allem gerne "in Character", das hört man.

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Aber man hört auch die neuen Freiheiten auf der gerade erschienenen zweiten Platte "Telegramm". Denn das Moka Efti Orchestra ist raus aus "Babylon Berlin", auch auf dem Soundtrack zur vierten Staffel ist es nicht dabei (wohl aber die Bayern La BrassBanda mit "Teufelstanz"). Den neuen Titelsong "Ein Tag wie Gold" hat sich Tykwer von Gala-Sänger Max Raabe und Anette Humpe liefern lassen. Man merkt Weidemann die persönliche Enttäuschung über diese "Marktmechanismen", die "Pinkfloydisierung" der Serie an, aber er sagt auch: "Es war ein großes Glück."

Denn statt "Character" kommt jetzt etwas anderes noch stärker durch: Haltung. Ganz wichtig für Weidemann, es sei entscheidend, wer ein Stück wie spiele: "Bei Gang of Four oder den Buzzcocks kannst du Haltung finden, kantig; das Gleiche von Coverbands gespielt, würde zerbrechen." Postpunk ist seine Haltung, angelegt in Zappa, dessen Geist er mit nach Berlin geschleppt habe, "weil er dirty genug war, weil er alles reingetunkt hat in diesen Topf seines Leidens, seines Ekels, aus dem er dann das Schöne rausgeholt hat". Das ist die Haltung.

Man ist nun freier, auch die Kooperationen sind kühner. In "Turquoize" umschlängeln sich die Stimmen von "Zu Asche"-Sängerin Severija Janusauskaite und dem Berliner Unikum Friedrich Liechtenstein im afro-kubanischen Rhythmus. Es singt auch Weidemann selbst - etwa "Surabaya Johnny" aus dem Schaffen von Brecht/Weill, das er schon mal mit Neubauten-Musikern zu Gehör brachte; es singen MEO-Mitgründer Mario Kamien den Edel-Schlager "Bedeutend", der Geiger Roland Sattlerwhite "We can't stop the show" und der Schauspieler Karsten Troyke ein jiddisches Lied, das ihm eine Holocaust-Überlebende beigebracht hat: "Die ganze Welt ist mehr nisht wie a Maissele".

Maisseles sind Geschichten. Weidemann hat eine Menge davon auf Lager. Etwa wie Clemens Rehbein auf die Platte kam, der mit dem Schlurf-Pop-Duo Milky Chance ein Weltstar ist. Bevor er morgens mit dem 30 Jahre Jüngeren in dessen Studio ging und den von Weidemanns Nina-Simone-Phase inspirierten Song "Last Chance Sweet Valentine" aufnahm (unter der Bedingung, alles Milky-Chance-Artige zu unterlassen), schlugen sie sich nach einem MEO-Konzert in Kassel die Nacht um die Ohren, in der Rehbein Weidemann Hannes Wader vorstellte und "so ein Typ mit Brille" irgendwann in ein Taxi stieg, es war, Weidemann schwört es, Konstantin Wecker. Wer sich in den Song hineinfühlt, mag all das hören.

Moka Efti Orchestra, Freitag, 16. Dezember, 20 Uhr, München, Werksviertel, Technikum

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