"Irrlicht" im Kino:Liebe sich, wer kann

"Irrlicht" im Kino: Erinnerung, Spiel und Traum: Unsere Gegenwart ist in "Irrlicht" längst Vergangenheit geworden.

Erinnerung, Spiel und Traum: Unsere Gegenwart ist in "Irrlicht" längst Vergangenheit geworden.

(Foto: Edition Salzgeber)

Wie Klimaschutz und körperliches Begehren zusammenhängen: Der tolle portugiesische Kinofilm "Irrlicht".

Von Philipp Stadelmaier

Einer der schönsten Filme des Jahres 2022 beginnt etwas mehr als vierzig Jahre in der Zukunft. Alfredo, der letzte König Portugals, liegt im Sterben, in einem kargen weißen Zimmer. Das Einzige, was von ihm noch zu hören ist, sind vereinzelte Fürze, während neben ihm ein Kind mit einem Playmobil-Feuerwehrauto und einem Playmobil-Feuerwehrmann of Colour spielt. Eine Krone hat der König schon lange nicht mehr, der Reichtum ist dahin, das Geld reicht nicht mal mehr für ein anständiges Staatsbegräbnis.

Dem Sterbenden bleiben nur die Erinnerungen. Wie er als junger Mann mit seinem Vater den königlichen Kiefernwald inspizierte. Wie er später, als die Wälder immer mehr brannten, den königlichen Eltern die berühmte Rede von Greta Thunberg vortrug: "You have stolen my dreams ..." Wie er sich angesichts der Waldbrände entschied, Feuerwehrmann zu werden, obwohl die Mutter das "republikanisch" fand. Und wie er, der weiße Thronfolger (Mauro Costa), die Bekanntschaft von Afonso macht (André Cabral), seinem schwarzen Ausbilder. Der Nachkomme der Kolonisierten bringt dem Nachkommen der Kolonisatoren nicht nur bei, wie man Brände löscht, sondern erweckt in ihm auch die körperliche Liebe. Der Rest ist, von 2069 aus betrachtet, Geschichte.

Die Feuerwehrleute tragen Fetisch-Kleidung und manchmal auch gar nichts

"Irrlicht" heißt der Titel dieses gerade mal knapp über eine Stunde gehenden Films von João Pedro Rodrigues, dessen queeres und eklektisches Werk zum Aufregendsten gehört, was das Gegenwartskino zu bieten hat. Zumal gerade dieser parabelhafte Film über einen portugiesischen Prinzen und seine ökologisch-erotischen Abenteuer die großen Themen der Gegenwart in sich aufgesogen hat.

Wie der Vorspann verkündet, ist das moderne Märchen auch eine "musikalische Fantasie". Im königlichen Wald singen Kinder davon, die Bäume gut zu behandeln, sie zu pflanzen und zu pflegen wie Freunde. Das ist frischer, optimistischer und effizienter als die hölzerne Untergangsprosa heutiger Klebeprotestler: Wenn alle nur mal auf die Filmkritiker hören und diesen Film sehen würden, wäre die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad spielend zu schaffen.

Nun kriegt der junge Prinz im Wald mit den hohen Stämmen und den saftigen Rinden nicht nur ein ökologisches Gewissen, sondern auch eine ordentliche Erektion. Wer Bäume schützen will, muss sie ebenso begehren wie Körper: Das ist die zentrale Lektion des Films. Und wer einmal die Körper der hotten Feuerwehrmänner gesehen hat, mit ihren sehnigen Muskeln und strengen Gesichtern auf dem Übungsplatz, begleitet von Mozarts "Zauberflöte", der will überhaupt nichts anderes mehr sehen. "Wo, wo, wo, ach, wo find ich dich?", singt Tamino auf der Tonspur, und als würden durch die Arie der Film und seine Handlung erfasst und verzaubert, kann die Antwort nur heißen: Alfredo wird seinen Afonso genau hier finden. Zwischen den roten Autos, einer Feuerwehrchefin mit der Energie eines Riesenbrummkreisels und den Brandlöschern, die in der Umkleide Fetisch-Kleidung tragen, und manchmal auch gar nichts.

Wie alle Orte des Films ist diese verzauberte Wache außerdem eine Bühne. Für choreografierte Tänze oder Szenen aus "berühmten Gemälden", die von den (halb-)nackten Männern nachgestellt werden, für Fotos für ihren Jahreskalender. Nach Pier Paolo Pasolini (in "La Ricotta") und Jean-Luc Godard (in "Passion") hat niemand mehr so schön und ironisch Gemälde in filmische Szenen verwandelt wie Rodrigues. Doch in dessen Bildkunst wird die Kunstgeschichte außerdem von der Kraft der queeren Metamorphose erfasst und neu gedichtet. "Der Blowjob des Feuerwehrmanns" von Caravaggio dürfte einem größeren Publikum bislang ebenso unbekannt sein wie Francis Bacons "Mr. Fireman, Send me a Dream". Einzig Rubens' "Raub des Ganymed" ist eine reale Referenz. Hier gibt es keinen Grund, irgendwas hinzuzuerfinden: Die Entführung des schönen Jünglings durch Zeus ist längstens eine schwule Urszene. Schon der Olymp war queer.

Mit dem weißen Alfredo (Ganymed) und dem schwarzen Afonso (Jupiter) wird der Olymp bei Rodrigues außerdem noch dekolonisiert. Während sie sich lieben, erfinden Alfredo und Afonso für ihre Geschlechtsteile Namen, die heute so manche(n) nervös machen könnten. Hier kämpft ein "Schwarzer Speer" des "Kannibalen" gegen den weißen "Imperialisten". Die unerwartete Umwendung der Sprache des Rassismus in eine Sprache des Verlangens und der Zärtlichkeit ist das Unerwartetste, was man dieses Jahr im Kino gesehen haben wird.

All das ist, betrachtet vom zukünftigen Sterbebett des Königs, nichts als Erinnerung, Spiel und Traum. Das Licht auf der Leinwand ist ein Irrlicht. Doch in ihm entsteht, woran es unserer Welt mangelt: neue Utopien, neue Mythen, neue Hoffnung.

Fogo-Fátuo, Portugal / Frankreich 2022 - Regie, Buch: João Pedro Rodrigues. Mit Mauro Costa, André Cabral. Salzgeber, 67 Min. Kinostart: 8.12.22.

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