Rechtsstaatlichkeit:EU gibt Orbán weitere Chance

Rechtsstaatlichkeit: Viktor Orbán kämpft um EU-Fördergelder.

Viktor Orbán kämpft um EU-Fördergelder.

(Foto: Franc Zhurda/AP)

Die Kommission wollte Milliarden an Fördergeldern zurückzuhalten, wegen der grassierenden Korruption. Doch die EU-Finanzminister beauftragen die Behörde nun, die Lage noch einmal zu prüfen. Dadurch könnte der Strafbetrag sinken.

Von Björn Finke, Brüssel

Neue Hoffnung für Viktor Orbán: Die EU-Kommission wird noch einmal prüfen, in welchem Umfang der autoritäre ungarische Ministerpräsident Reformen zur besseren Korruptionsbekämpfung umgesetzt hat. Mögliche Folge: Die Behörde könnte vorschlagen, einen geringeren Betrag an EU-Fördermitteln für Ungarn einzufrieren. Diese überraschende Ankündigung machte Bundesfinanzminister Christian Lindner am Dienstag nach einem Treffen der EU-Finanzminister in Brüssel. "Es hat in der ungarischen Politik noch Entwicklungen gegeben" in den vergangenen Wochen, sagte der FDP-Vorsitzende. Erst am Vortag hatte sich Haushaltskommissar Johannes Hahn im Europaparlament gegen eine neue Untersuchung ausgesprochen. Lindner sagte, die Ergebnisse würden in "wenigen Tagen" vorliegen.

Die Kommission hatte Orbán im September gedroht, 7,5 Milliarden Euro an Fördermitteln einzufrieren, wenn er nicht bis 19. November vereinbarte Reformen umsetzt, die das EU-Geld vor Missbrauch und der grassierenden Korruption schützen sollen. Grundlage dafür ist der neue Rechtsstaatsmechanismus für den Brüsseler Haushalt. Vorige Woche stellte Hahn fest, dass die Versprechen unzureichend erfüllt worden seien. Daher schlug er den EU-Finanzministern vor, die Milliarden tatsächlich zurückzuhalten.

Die Minister müssen diese Entscheidung mit sogenannter qualifizierter Mehrheit treffen, was in etwa einer Zwei-Drittel-Schwelle entspricht. Dass diese erreicht werden kann, gilt nicht als sicher. Bei ihrem ohnehin geplanten Treffen am Dienstag beschlossen die Minister nun, nicht abzustimmen. Stattdessen soll die Kommission zunächst eine aktualisierte Einschätzung präsentieren, die positive Entwicklungen in Ungarn nach dem 19. November berücksichtigt. Offenbar hatten darauf unter anderem Frankreich und Deutschland gedrungen, um die Chance zu erhöhen, dass es für den - möglicherweise abgeschwächten - Strafvorschlag der Behörde eine ausreichend große Mehrheit gibt. Manche ost- und südosteuropäische Regierung hat wenig Lust, Härte zu zeigen, weil sie fürchtet, selbst einmal wegen Korruptionsproblemen ins Visier des Rechtsstaatsmechanismus zu geraten.

Um seine Verhandlungsposition zu verbessern, blockiert Orbán zudem andere wichtige Initiativen, bei denen Einstimmigkeit nötig ist. So stimmte sein Vertreter beim Finanzministertreffen am Dienstag dagegen, der Ukraine im kommenden Jahr die versprochenen 18 Milliarden Euro Budgethilfe zu überweisen. Lindner nannte das "bedauerlich". Budapest verhindert mit seinem Veto auch die EU-weite Einführung der Mindeststeuer für Konzerne, die bei der Industrieländerorganisation OECD vereinbart worden ist. Die Abstimmung darüber war für Dienstag geplant, wurde aber wegen Aussichtslosigkeit verschoben, nachdem Ungarns Finanzminister gegen die Ukraine-Hilfe votiert hatte.

Die EU hat den Corona-Topf als Druckmittel

Die anderen EU-Staaten überlegen nun schon, wie sie die Steuer und die Unterstützung für Kiew ohne Ungarns Placet auf den Weg bringen können. Das ist möglich, allerdings kompliziert und zeitraubend - und es würde der Welt vor Augen führen, dass es mit der europäischen Einigkeit in diesen schwierigen Zeiten nicht weit her ist.

Daneben setzen die Kommission und die Orbán-kritischen Regierungen auf ein weiteres Druckmittel: den Corona-Hilfsfonds. Ungarn ist der einzige EU-Staat, dessen Reform- und Investitionsplan für den Unterstützungstopf noch nicht gebilligt wurde. Dort warten 5,8 Milliarden Euro an Zuschüssen bis Ende 2026, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Doch nicken die Minister den Plan nicht bis Jahresende ab, verfallen 70 Prozent der Zuschüsse. Die Kommission schlägt den Finanzministern vor, das Konzept anzunehmen.

Das würde freilich nicht bedeuten, dass sofort Geld fließt. Auf Druck der Kommission sieht der Plan vor, dass Ungarn 27 umfassende Reformen umsetzen muss, welche die Unabhängigkeit der Justiz und den Kampf gegen Korruption stärken. Erst wenn die Regierung diese sogenannten "Super-Meilensteine" erreicht, darf die Behörde Tranchen überweisen. Ein Erfüllen dieser Vorgaben würde zugleich die Bedenken ausräumen, dass Fördergelder in Ungarn veruntreut werden. Damit könnte Budapest auch die Milliarden loseisen, die Brüssel wegen des Rechtsstaatsmechanismus vorerst einfrieren will.

Nun steht ein Showdown zur Adventszeit an

Die Kommission beklagt seit Jahren Korruption, autoritäre Tendenzen sowie den Abbau von Rechtsstaat und Medienfreiheit in Ungarn. Der Rechtsstaatsmechanismus zielt allerdings ausschließlich auf solche Missstände ab, derentwegen EU-Gelder in den falschen Taschen landen könnten. Er erlaubt es, Fördergelder zurückzuhalten, wenn Mängel bei Rechtsstaat und Korruptionsbekämpfung deren ordnungsgemäße Verwendung gefährden. Im April eröffnete die Behörde das Verfahren; im September drohte Haushaltskommissar Hahn, 7,5 Milliarden Euro einzufrieren, wenn Orbán nicht bis 19. November 17 Reformen umsetzt, die den Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft verbessern. Die vorgeschlagene Kürzung betrifft drei EU-Hilfsprogramme für benachteiligte Regionen. Diese unterstützen zum Beispiel den Bau von Straßen, Klärwerken und Kinderhorten. Insgesamt soll Ungarn bis 2027 mehr als 34 Milliarden Euro an Regionalförderung oder als Agrarsubvention erhalten.

In Brüssel steht jetzt bis Jahresende ein dramatischer Showdown an. Die Regierungen müssen de facto vier Entscheidungen im Paket treffen: über das Einfrieren von Fördermitteln, die Freigabe der Corona-Hilfen, die Unterstützung für die Ukraine sowie die Mindeststeuer. Das Kalkül: Ungarn soll sein Veto gegen die Steuer und die Milliarden für Kiew aufgeben, dafür würden die anderen Staaten den Weg zu den Corona-Hilfen ebnen und - auf Grundlage einer neuen Kommissions-Prüfung - über das Zurückhalten der Fördergelder befinden.

Kommissions-Vizepräsident Valdis Dombrovskis warnte aber, dass die Frist für die aktualisierte Untersuchung "extrem komprimiert" sei. So müsse die Behörde neue "voluminöse Gesetze in ungarischer Sprache" prüfen, es sei "schwierig, innerhalb weniger Tage eine qualitativ hochwertige Einschätzung" vorzulegen. Lindner mahnte, es dürfe auch "nicht so lange geprüft werden, bis das gewünschte Ergebnis erzielt wird, sondern wir müssen genau wissen: Hat sich tatsächlich substanziell etwas geändert?"

Eine niedrigere Strafe wäre "grotesk", sagt ein Abgeordneter

Offen ist, ob über das Vierer-Paket wieder die Finanzminister entscheiden sollen - dann würde eine Sondersitzung einberufen - oder ob direkt ihre Vorgesetzten ranmüssen: Die 27 Staats- und Regierungschefs treffen sich ohnehin am 14. und 15. Dezember in Brüssel.

Im Europaparlament wird scharfe Kritik daran geübt, dass die Kommission ihre Einschätzung aktualisieren soll. "Es darf keinen Rabatt für Ungarn geben; unsere Werte sind nicht verhandelbar", sagte Daniel Caspary, der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament. Der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund sagte, dass die Kommission Orbán bereits "unzählige Deadlines" gewährt habe: "Und er hat sie alle gerissen." Freund nannte es "grotesk", würde die Kommission nun vorschlagen, weniger Geld einzufrieren. Der Betrag von 7,5 Milliarden Euro sei "ohnehin schon niedrig".

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