Antisemitismus-Debatte um "Vögel":Der offene Brief von Jerzy Montag im Wortlaut

Antisemitismus-Debatte um "Vögel": Jerzy Montag ist seit fast 40 Jahren Mitglied der Grünen, von 2002 bis 2013 saß er als Münchner Abgeordneter im Bundestag.

Jerzy Montag ist seit fast 40 Jahren Mitglied der Grünen, von 2002 bis 2013 saß er als Münchner Abgeordneter im Bundestag.

(Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa)

Nach Protesten jüdischer Studierender war das Theaterstück "Vögel" am Metropoltheater abgesetzt worden - dafür gab es Unterstützung von den Grünen. Der frühere Bundestagsabgeordnete Montag geht nun seine eigene Partei scharf an.

Offener Brief an die Münchner Grünen

München, den 02.12.2022

Liebe Münchner Grüne,

liebe Katrin Habenschaden,

lieber Dominik Krause,

zuallererst und weil die vielen neuen Münchner Grünen mich vielleicht nicht mehr kennen werden:

Ich gehöre seit fast 40 Jahren zu den Grünen, war 4 Jahre Bayerischer Landesvorsitzender und 11 Jahre Münchner Bundestagsabgeordneter in Berlin. In dieser Zeit war ich einige Jahre Vorsitzender der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag, habe Kontakte zu vielen israelischen Knessetabgeordneten und zu den jeweiligen israelischen Regierungen gehabt und war viele Mal offiziell und privat in Israel. Ich habe die Bundeskanzlerin Merkel bei der Israelreise begleiten dürfen, auf der sie in der Knesset und in deutscher Sprache Israels Existenz und Sicherheit zum Teil deutscher Staatsräson erklärt hat. Ich teilte und teile diese Aussage vollkommen und habe mich als aktiver grüner Politiker immer für den Schutz Israels eingesetzt. Meine Familie auf väterlicher Seite ist jüdisch, ich habe meine Großmutter, Tanten und weitere Familienmitglieder im millionenfachen Massenmord in Auschwitz Birkenau verloren. Mein Vater hat das Konzentrationslager nur durch glückliche Umstände überlebt.

Ich glaube deshalb, dass ich in Fragen des Antisemitismus einen fachmännischen und inhaltlich fundierten Beitrag leisten kann.

Ich habe aber auch als Rechtspolitiker, als Rechtsanwalt und Strafverteidiger für die Grundrechte der Verfassung eingestanden. Seit 6 Jahren bin ich auf Vorschlag der Bayerischen Grünen Richter am Bayerischen Verfassungsgerichtshof.

Als ich 2013 aus dem Bundestag ausgeschieden bin, habe ich für mich entschieden, nicht mehr von der Seitenlinie Kommentare und Kritik zur Politik von Bündnis 90/Die Grünen abzugeben. Ich habe mich daran gehalten, obwohl es mich immer wieder mal danach gedrängt hat, mich einzumischen, sei es mit Lob oder mit Kritik.

Die Haltung der Grünen Stadtratsfraktion, insbesondere aber euer Agieren, liebe Katrin und lieber Dominik, zum von euch mitgetragenen unseligen Grundsatzbeschluss des Stadtrats vom 13. Dezember 2017, wonach in städtischen Räumen weder über die BDS-Kampagne gegen den Staat Israel diskutiert werden darf noch Menschen zu welchen Themen auch immer in städtischen Räumen auftreten dürfen, wenn sie irgendeiner Nähe zu dieser Kampagne verdächtigt werden und jetzt zur Absetzung eines Theaterstücks in einem Münchner Theater, welchem von selbsternannten Wächtern über Kunst in unserer Stadt Antisemitismus vorgeworfen wird, hat mich so empört, dass ich dazu nicht schweigen mag.

Ihr habt, anscheinend ohne besseren Argumenten zugänglich zu sein, der Meinungsfreiheit in unserer Stadt einen Bärendienst erwiesen und Euch vor den Karren derjenigen spannen lassen, die mit dem Totschlagargument eines angeblichen Antisemitismus eine Zensur der Kunst betreiben und gleichzeitig jede Kritik an der Regierungspolitik Israels in die Ecke einer Judenfeindschaft rücken wollen.

Der Beschluss des Deutschen Bundestags zur BDS-Kampagne vom 17. Mai 2019 ist der Beginn einer unheilvollen Entwicklung, die in vielen Fällen und an vielen Orten zu unmöglichen Eingriffen in das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung führte. Der Beschluss hat keinerlei rechtliche Bindung und ist eine schlichte politische Positionierung. Nicht sein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels ist das Problem, sondern sein Aufruf dazu, jegliche kritische Positionierung in Diskussionen über die Politik israelischer Regierungen in öffentlichen Räumen zu unterbinden. Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags hat deshalb auch glasklar festgehalten:

Ein Nutzungsausschluss von BDS-nahen Personen oder Gruppen allein wegen zu erwartender unerwünschter Meinungsäußerungen ist daher mit Art. 5 Abs. 1 GG unvereinbar. Insbesondere stellt auch der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 2019 keine Grundlage dar, die eine solche Einschränkung rechtfertigen könnte.

Ihr habt aber, ohne auf die verheerenden Folgen zu achten, mit dem Grundsatzbeschluss von Dezember 2017 das Tor zu erheblichen Grundrechtsverletzungen in unserer Stadt geöffnet. Als Münchner Bürgern mit eurer Zustimmung unter Berufung auf diesen Beschluss untersagt wurde, in städtischen Räumen über diesen Beschluss zu diskutieren, hätte euch klar sein müssen, welchen Schaden Ihr damit für die Demokratie in München anrichtet.

Ich habe zu Dir, Katrin Kontakt gesucht und Dich darauf aufmerksam gemacht, dass der Stadt vor Gerichten eine Blamage großen Ausmaßes droht. Ich habe Dich als Bürgermeisterin dieser Stadt gebeten, sich dafür einzusetzen, dass der Schaden wenigstens eingedämmt wird, wenn er auch nicht mehr zu beheben ist. Inzwischen hat sowohl das höchste Bayerische Verwaltungsgericht, der Bayerische Verwaltungsgerichtshof als auch das Bundesverwaltungsgericht den Stadtratsbeschluss kassiert und dem Stadtrat und damit auch uns Münchner Grünen ins Stammbuch geschrieben, dass wir in rechtswidriger Weise sowohl die Meinungsäußerungsfreiheit als auch demokratische Grundsätze der Kontrolle staatlicher Organe durch die öffentliche Debatte der Bürgerinnen und Bürger verletzt haben. Der politische Schaden geht aber sogar darüber hinaus. Ihr habt uns nahestehende Teile der Zivilgesellschaft, wie Bürgerrechtsorganisationen und langjährige Gefährtinnen und Gefährten an der Seite der Grünen Partei vor den Kopf gestoßen und von unserer Partei entfernt, während ihr Euch in die Nähe derjenigen gebracht habt, die sich der völkerrechtswidrigen Besatzungspolitik israelischer Regierungen nicht offen entgegenstellen und bereit sind, jegliche Kritik daran mit der Keule angeblichen Antisemitismus zu ersticken.

Als jetzt ein freies Münchner Theater, das Metropoltheater in Freimann, von selbsternannten Israelbeschützern und Antisemitismusbekämpfern wegen des Theaterstücks "Vögel" von Wajdi Mouawad angegriffen wurde, als nach Zensur, Absetzung und sofortiger Streichung städtischer Gelder gerufen wurde - eher ein Vorgehen nach der Methode der BDS-Kampagne - hätte ich mir von Euch, liebe Katrin und lieber Dominik, ein kraftvolles Vorgehen zum Schutz freier Kultur und freier Meinungsäußerung in unserer Stadt gewünscht. Aber auch hier bin ich bitter enttäuscht worden.

Das Stück "Vögel" ist weder antisemitisch noch verweigert es dem Staat Israel eine Daseinsberechtigung. Es reflektiert die Schwierigkeiten und Brüche in Israel und in Palästina, die sich aus dem schrecklichen Schicksal des Judentums in der Schoah und der bedrückenden Situation von Palästinensern, hervorgerufen durch die jahrzehntelange völkerrechtswidrige Besetzung ihres Landes ergeben. Diese Schwierigkeiten und Brüche formen Menschen und lassen sie Dinge sagen, denen man nicht zustimmen muss, die man aber in einem Theaterstück darstellen darf. Andernfalls müssten wir weite Teile unserer Kultur unter Zensur stellen. Das Theaterstück "Vögel" wird seit Jahren in vielen Ländern mit großem Erfolg aufgeführt. In Israel selbst war es ein Projekt der Zusammenarbeit von arabischen und jüdischen Israelis, wie man es sich nur wünschen kann, selbst die israelische Regierung hat das Projekt finanziell gefördert. Und hier bei uns in München? Das Metropoltheater hat aus lauter Angst vor dem Verlust städtischer Unterstützung und unter der Wucht des Vorwurfs angeblichen Antisemitismus weitere Aufführungen abgesetzt. Die Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt können sich so nicht einmal mehr ein eigenes Bild vom Wert und Inhalt des Theaterstücks machen. Ich hätte mir gewünscht, dass Ihr Euch schützend vor das Theater stellt, zur sofortigen Wiederaufnahme der Aufführung aufruft und dem Metropoltheater die weitere städtische Unterstützung zusichert. Nichts davon ist aber geschehen. Stattdessen machst Du Dominik dem Theater den Vorwurf mangelnder Sensibilität und sprichst von problematischen Passagen. Damit fällst Du dem Theater auch noch in den Rücken und ermunterst eifernde Kunstlaien dazu, sich in die Planung und Durchführung von Kunst, die ja frei sein soll, einzumischen.

Inzwischen ist die Kritik zum Glück groß und stark angeschwollen. Meron Mendel von der Anne Frank Bildungsstätte hat sich zu Wort gemeldet, die wunderbare alte Dame Natalie Davis, Historikerin und selbst jüdischer Herkunft, unser Altoberbürgermeister Ude und viele andere. Aber von den Grünen selbst hört und liest man keine Stimme zum Schutz der Kunst- und Meinungsfreiheit. Stattdessen wird von Euch Altoberbürgermeister Ude öffentlich angegriffen, der von Kunst sicher mehr als die meisten versteht und keine Belehrungen von Grüner Seite über Antisemitismus und den Umgang mit Kritik benötigt.

Ja, meine Enttäuschung ist groß und meine Sorge über den falschen Weg, den ihr inzwischen in Sachen Bürgerrechte seit Jahren geht. Dazu wollte und konnte ich nicht länger schweigen. Ich melde mich öffentlich zu Wort, damit auch von Grüner Seite dem Metropoltheater Zuspruch und damit Hilfe zuteil wird und weil ich immer noch davon ausgehen will, dass Demokratie und der Schutz grundlegender Rechte wie der freien Meinungsäußerung bei Bündnis 90/Die Grünen gut aufgehoben ist.

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Debatte um Theaterstück "Vögel"
:"Der Meinungsfreiheit in unserer Stadt einen Bärendienst erwiesen"

Der Streit um das abgesetzte Stück am Metropoltheater geht weiter. Nun richtet der ehemalige Grünen-Bundestagsabgeordnete Jerzy Montag Vorwürfe an Bürgermeisterin Habenschaden.

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