Münchner Kammerspiele:Hormone, Harmonie, Halbwahrheiten

Münchner Kammerspiele: Freude ist bunt - zumindest an den Münchner Kammerspielen. Dort kommt mit "Joy 2022" ein Abend zu Intimität und Begehren heraus.

Freude ist bunt - zumindest an den Münchner Kammerspielen. Dort kommt mit "Joy 2022" ein Abend zu Intimität und Begehren heraus.

(Foto: Judith Buss)

Die Münchner Kammerspiele bringen mit "Joy 2022" und "L7L - Die sieben Irren" zwei sehr unterschiedliche Uraufführungen zu Sex und Verschwörungstheorien heraus.

Von Yvonne Poppek

Die schönste Szene des Abends gehört Jelena Kuljić. Sie steht allein auf der Bühne der Kammerspiele, trägt hellgrünen, ballonseidenen Freizeitlook, ihre Lippen und Augenlider sind grell geschminkt. Vor sich hat sie einen Notenständer platziert, darauf Erwin Schulhoffs knapp vierminütige "Sonata Erotica", ein dadaistisch geprägtes Werk von 1919. Es ist die Tonspur zu einem weiblichen Orgasmus. Kuljić haucht, stöhnt, singt, jauchzt die "Ahs" und "Dus", die "Hachs" und "Bittes" in wunderschöner professioneller Distanz. Ab und zu blättert sie in den Noten, setzt die Pausen mit dem Ernst einer großen Solistin, fährt sich am Ende mit einem Waschlappen zwischen die Beine und uriniert in eine Schale. Die vier Minuten sind genauso lustig wie artifiziell. So kann das aussehen, wenn man zum Thema Sex Kunst macht. Es geht aber auch anders.

Mit "Joy 2022" hat Choreograf Michiel Vandevelde "neun Tableaus über Intimität und Begehren" entwickelt. Die Uraufführung war im Sommer auf den Wiener Festwochen zu sehen, mit Abänderungen kam sie nun in München heraus, die Darstellenden gehören dem Kammerspiel-Ensemble und der Sexpositivity-Szene an. Inspiriert ist der Abend von Carolee Schneemanns Performance "Meat Joy" von 1964, die Körper und Lust zelebrierte und sich gegen eine sexnegative Gesellschaft wandte - damals ein Skandalon. Fast 60 Jahre später ist "Joy 2022" kein Aufreger mehr, sondern konsensfähig.

Die Performance feiert den Sex

Die Performance in den Kammerspielen feiert knapp eineinhalb Stunden Körper und Sex als etwas per se Schönes und Natürliches. Und ja, das bedeutet Nacktheit, Berührungen, Küsse, Zärtlichkeiten, die Repräsentation von Sex und auch, dass sich ein Akteur auf der Bühnenrampe einen Analplug einführt. Die Spielerinnen und Spieler beschmieren und wälzen sich zudem in Farbe und waschen sich danach mit Schwämmen wieder sauber. Weil das alles mit größter Behutsamkeit, Zugewandtheit und Zärtlichkeit passiert, nimmt das einiges an Zeit in Anspruch.

Faszinierend ist, dass "Joy 2022" dabei nicht obszön wirkt, dass niemand hier ausgestellt wird und dass trotz aller sexuellen Aufladung nichts erotisch ist. Der Abend versprüht kurioserweise die unschuldige Freude eines Kinderspiels und verläuft in ähnlichen Spannungsbögen. Vandevelde setzt auf bildstarke, bunte Szenen, nicht auf künstlerische Überhöhung. Die Inszenierung funktioniert wie ein fröhlicher Weihnachtssong mit ein bisschen (Körper-)Liebe für alle. Vom bösen Baum der Erkenntnis wird vorsichtshalber nicht gekostet, Konflikte werden dem Publikum nicht zugemutet - das trägt keinen ganzen Theaterabend. Wer sich allerdings von der Sexpositivity ausreichend inspiriert fühlt, der kann derzeit gleich weiterziehen in den Habibi-Kiosk. Dort hat das feministische Sexshopkollektiv "Consent Calling" einen Pop-Up-Store eingerichtet. Also alles da für hormonträchtige Harmonie.

Gedankenspiele gab es dann eher am Vorabend der Joy-Premiere in der Therese-Giehse-Halle. Dort hatte der argentinische Regisseur Alejandro Tantanian die Uraufführung von "L7L - Die sieben Irren" nach dem Roman von Roberto Arlt eingerichtet. Und was sich "Joy 2022" an Rätselhaftigkeit spart, das hat sich dieser Abend dafür aufgeladen.

Münchner Kammerspiele: Mit "L7L - Die sieben Irren" bringt Alejandro Tantanian einen Abend zu Verschwörungserzählern heraus - und auch ein bisschen von Roberto Arlts Roman.

Mit "L7L - Die sieben Irren" bringt Alejandro Tantanian einen Abend zu Verschwörungserzählern heraus - und auch ein bisschen von Roberto Arlts Roman.

(Foto: Judith Buss)

Im Kern geht es um Menschen, die ihr Heil in Verschwörungstheorien suchen. Aktueller könnte das gar nicht sein, kurz nach der Razzia in der Reichsbürgerszene. Aktuelle Bezüge sind Tantanian aber völlig schnurz. Ihm geht es vielmehr um einen abstrakten Überbau und auch um eine Auseinandersetzung mit dem Autoren Arlt, der davon überzeugt war, dass die Gesellschaft von der Fiktion geprägt ist. Kunst und Medien entwerfen demnach soziale Illusionen, die zweifelhaft und kritikwürdig sind, sogar ins Verderben führen. Den Roman schrieb der argentinische Autor 1929, er gilt als sein wichtigstes Werk.

Regisseur Alejandro Tantanian arbeitet mit mehreren Fiktionsebenen

Um das zu erzählen, baut Tantanian an verschiedenen Fiktionsebenen. Die erste ist: In der Therese-Giehse-Halle stellt sich ein Geheimbund vor, um neue Mitglieder zu werben. Thomas Hauser gibt hier prächtig den nervös-aggressiven Chef der siebenköpfigen Truppe, Annette Paulmann herrlich betulich die verquaste Halbintellektuelle, die in Arlts Roman die Folie für den Umsturz entdeckt hat. Fiktionsebene zwei sind ein paar Szenen aus den "Sieben Irren", die aber sehr kursorisch bleiben. Zuletzt schichtet der Abend noch ein paar verzweifelte Biografien obendrauf von Menschen, die in der Realität nicht zurechtkommen.

Zusammengenommen gibt das ein Gemisch, das sich nicht zwingend erschließt. Tantanian liefert eben keine Abziehbilder von Verschwörungserzählern oder Erklärungsmodelle, warum es derer so viele gibt. Das ist ein Glück - und trotzdem nicht der Weg zum Verständnis. Der Regisseur bohrt da lieber im Fleisch der Kunst und stellt die Frage, in welchen Fiktionen sich letztlich alle bewegen. Dafür, dass jeder in seiner Bubble lebt, hat er am Ende sogar ein plakatives Bild gefunden: Bernardo Arias Porras steht tastend in einer aufgeblasenen Plastikhülle. Durchdringen lässt sie sich nicht.

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