Nahost-Konflikt:Layla und Ben, in Trauer vereint

Lesezeit: 5 min

Beide haben jeweils ein Kind im Nahost-Konflikt verloren. Jetzt gehen der Israeli Ben Kfir und die Palästinenserin Layla Alsheikh gemeinsam in Schulen, um für Versöhnung zu werben. (Foto: Peter Münch)

2022 wird als eines der blutigsten Jahre in die Annalen des Nahost-Konflikts eingehen. Die Angst vor weiterer Eskalation wächst. Doch im "Parents Circle" zeigen Israelis und Palästinenser, wie sich der Kreislauf der Gewalt durchbrechen lässt.

Von Peter Münch, Jerusalem

"Ich habe nur noch Wut und Hass gefühlt gegen jeden, vor allem gegen die Israelis", sagt Layla Alsheikh und blickt hinüber zu Ben Kfir. "Ich wollte Rache", sagt der. "Ich bin ein guter Schütze, und ich habe schon Pläne geschmiedet, wie ich auf einer Baustelle in der Nähe meines Hauses mehrere palästinensische Arbeiter erschieße."

Wut, Hass, Rache - nichts anderes haben sie anfangs fühlen können, die Palästinenserin Layla Alsheikh aus dem Dorf Battir nahe Bethlehem, und Ben Kfir, der Israeli aus Aschkelon. Beide haben sie ein Kind verloren in diesem ewigen Konflikt zwischen ihren beiden Völkern, beide wurden sie hineingerissen in diesen Kreislauf der Gewalt. Jahre schon liegt ihr Verlust zurück, doch viel geändert hat sich nicht da draußen zwischen Bethlehem und Aschkelon.

Immer noch wird geschossen und gestorben, immer noch explodieren Bomben. Das Jahr 2022 geht mit einer traurigen Bilanz zu Ende. In Israel fielen mehr als 30 Menschen dem Terror zum Opfer, auf palästinensischer Seite kamen bei Einsätzen der israelischen Armee mehr als 150 Menschen zu Tode. Im Westjordanland war es das blutigste Jahr seit 2004, seit den Tagen der Zweiten Intifada. Doch während ringsherum neuer Hass aufkeimt und Racheschwüre ausgestoßen werden, sitzen Layla Alsheikh und Ben Kfir einträchtig nebeneinander auf einem roten Sofa im Jerusalemer Gloria Hotel. Sie haben den Hass überwunden und verkünden eine neue Botschaft: die Botschaft der Versöhnung.

600 Familien, die Opfer zu beklagen haben, treffen sich regelmäßig

Die Palästinenserin und der Israeli gehören zu einer Organisation, die sich "Parents Circle" nennt. Zusammengeschlossen haben sich in diesem "Elternkreis" die Angehörigen von Opfern des Konflikts auf beiden Seiten. 1995 ist er gegründet worden, mehr als 600 Familien gehören heute dazu. Es sind Menschen, die persönlich einen hohen Preis dafür gezahlt haben, dass sich ihre beiden Völker so unnachgiebig bekämpfen. Die den gleichen Schmerz gefühlt und daraus eine gemeinsame Konsequenz gezogen haben - sie wollen das Blutvergießen beenden. Ihr Ansatz: Wenn wir den Weg zum Frieden finden, dann kann das jeder.

Ein palästinensischer Junge in diesem Sommer in Gaza-Stadt. (Foto: Imago/Majdi Fathi/Imago/NurPhoto)

Regelmäßig treffen sie sich zum Austausch. Einmal im Jahr, am israelischen Jom Hazikaron, dem Erinnerungstag für die gefallenen Soldaten und Terroropfer, veranstalten sie eine gemeinsame Gedenkfeier für die Toten beider Seiten. Und sie halten Vorträge und gehen in Schulen, immer zu zweit, immer einer von jeder Seite, um die Botschaft der Versöhnung zu verbreiten. Layla Alsheikh und Ben Kfir sind schon häufiger zusammen aufgetreten.

Wenn Layla Alsheikh von Qusay berichtet, ihrem toten Sohn, dann treten ihr noch heute die Tränen in die Augen. "Es war am 11. April 2002 um vier Uhr nachts, als Qusay nicht mehr atmen konnte", erzählt sie. Es waren die Zeiten der Zweiten Intifada, die israelische Armee hatte bei einem Einsatz in ihrem Dorf Tränengas versprüht, der sechs Monate alte Qusay hatte das inhaliert.

In Panik versuchten die Eltern, das Baby ins nächstgelegene Krankenhaus zu bringen. Doch überall hatte die Armee Checkpoints errichtet, nirgends gab es ein Durchkommen. "Keiner wollte zuhören, die israelischen Soldaten haben mich nur ausgelacht", sagt Layla Alsheikh. Als sie mit stundenlanger Verzögerung die Klinik in Hebron erreichten, kam für Qusay jede Hilfe zu spät.

SZ PlusNahost
:"Die Weihnachtsbotschaft von Frieden und Versöhnung gibt es für uns nicht"

An Weihnachten ziehen wieder Hunderttausende Touristen dorthin, wo das Fest der Liebe seinen Ursprung hat: Bethlehem. Doch die Stadt im Westjordanland ist zermürbt vom Nahostkonflikt. Ein Besuch.

Von Peter Münch

Sie erinnert sich noch daran, wie sie ihr totes Baby im Arm hielt, "er war ganz blau und kalt wie ein Eisklotz". Auch in ihr selbst war alles erfroren. Ihr Mann wollte noch ein Kind, doch jahrelang beschied sie ihm: "Warum soll ich Kinder in die Welt setzen, wenn ich sie doch wieder verliere." Es war 16 Jahre später, als ihr jemand vom Parents Circle erzählte und sie einlud zu einem Treffen. Ihre erste Reaktion: "Seid ihr verrückt, wisst ihr nicht, was mir passiert ist?"

Am Ende ging sie trotzdem hin, und als die ersten Israelis den Raum betraten, da wollte sie sofort wieder gehen. Staunend und befremdet hat sie beobachtet, wie sich die Teilnehmer beider Seiten herzlich begrüßten, und irgendwann kam eine Israelin auch zu ihr. "Sie hat mich umarmt und sich entschuldigt", sagt Layla Alsheikh. "Für mich war das wie ein Licht in der Dunkelheit meines Herzens." Vorher hatte sie die Israelis nur als Soldaten oder Siedler kennengelernt. Jetzt dachte sie plötzlich: "Sie sind Menschen wie ich."

Ben Kfir sitzt still dabei, als Layla Alsheikh ihre Geschichte erzählt. Er kennt ihren Schmerz, er teilt ihn, er ist durch die selbe Hölle gegangen. Seine Tochter Yael war 18 Jahre alt, als er sie verloren hat, ebenfalls in Intifada-Zeiten. "Sie war ein brillantes Mädchen", sagt er. Mit 16 hatte sie schon die High School beendet und ein Mathematik-Studium begonnen, bevor sie mit 18 Jahren ihren Militärdienst antrat. Am 9. November 2003 stand sie zusammen mit anderen Wehrpflichtigen an einer Bushaltestelle in der Nähe ihres Stützpunkts, als ein junger Palästinenser dort einen Sprengstoffgürtel zündete. Er tötete Yael und acht andere junge Israelis.

Nach dem Tod seiner Tochter hat er alle Abgründe durchmessen

Der Tag hat sich eingebrannt in Ben Kfirs Gedächtnis. Er erinnert sich noch an jede Einzelheit: an die drückende Hitze draußen, an den Fernsehbericht über einen Terroranschlag vor einer Kaserne, an die beiden Offiziere, die abends vor seiner Tür standen und die Nachricht von Yaels Tod überbrachten.

In der Zeit danach hat er alle Abgründe durchmessen. Erst die Rachefantasien, die in die Erkenntnis mündeten, "egal, wie viele Palästinenser ich töte, nichts wird mir Yael zurückbringen". Dann der Rückzug von der Welt, als er die Tür nicht mehr öffnete und das Telefon ausstöpselte, als er nicht mehr aus dem Bett aufstand und nichts mehr essen und trinken wollte. Und schließlich eine Art Erwachen, ein neuer Anfang, als er - gegen seinen erklärten Willen und trotzdem irgendwie angezogen - bei einem Treffen des Parents Circle landete.

Ein israelischer Soldat sucht Schutz vor einem Palästinenser, der bei einem Protest in Nablus mit Steinen wirft. (Foto: Imago/Nasser Ishtayeh/Imago/Zuma Wire)

"Wir teilen unseren Schmerz, und wir teilen auch die Hoffnung, dass dieser Konflikt ein Ende finden kann", sagt er heute. Für ihn sei dies der Grund, warum er trotz der Trauer um die Tochter jeden Morgen wieder aus dem Bett steige. "Du kannst vierzig Tage ohne zu essen leben, vier Tage ohne zu trinken und vier Minuten ohne zu atmen", sagt er. "Aber du kannst nicht vier Sekunden ohne Hoffnung leben."

Nicht jeder kann das verstehen, das haben Layla Alsheikh und Ben Kfir oft genug erfahren. "Mein Vater will, dass ich den Parents Circle verlasse, für ihn sind die Israelis unsere Feinde", sagt sie. "Es gibt Israelis, die denken, ich hätte nicht nur meine Tochter, sondern auch meinen Verstand verloren", sagt er. Wenn sie in Schulen auftreten, werden sie manchmal von Demonstranten draußen erwartet, die gegen jede Aussöhnung kämpfen. "Es wird immer schwerer, die Leute zu überzeugen", meint Layla Alsheikh.

Alle Nachrichten im Überblick
:SZ am Morgen & Abend Newsletter

Alles, was Sie heute wissen müssen: Die wichtigsten Nachrichten des Tages, zusammengefasst und eingeordnet von der SZ-Redaktion. Hier kostenlos anmelden.

Tatsächlich sind die Nachrichten ja in diesen Tagen wieder voll von neuen Gewalttaten, von neuen Opfern des Konflikts. In Jerusalem starb Ende November ein 15-jähriger israelischer Schüler bei der Explosion einer Bombe an einer Bushaltestelle. In Dschenin im Westjordanland wurde im Dezember ein 16-jähriges palästinensisches Mädchen mit einem Kopfschuss tot auf dem Dach ihres Hauses gefunden. Sie war offenbar in die Schusslinie israelischer Soldaten geraten, die dort mit militanten Palästinensern kämpften.

Zurück bleiben wieder Eltern, die um ihre Kinder trauern, Mütter wie Layla Alsheikh, Väter wie Ben Kfir. Sie werden Hass empfinden und Rachegelüste, und vielleicht werden sie irgendwann auch einmal vom Parents Circle hören. "Aber eigentlich", sagt Ben Kfir, "sind wir die einzige Organisation der Welt, die keine neuen Mitglieder will."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusMeinungNahost
:In Israel braut sich etwas Bedrohliches zusammen

In der neuen rechts-religiösen Koalition um Benjamin Netanjahu machen sich Rassisten, Homophobe und Verfechter eines illiberalen Staates breit. Damit geht Israel auch international ein Risiko ein.

Kommentar von Peter Münch

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: