Zeitgeist:Der Tetris-Trend in der Münchner Architektur

Zeitgeist: Die "Macherei" in Berg am Laim wirkt mit Blick auf die umliegende Tristesse so wohltuend urbanisierend wie ein Stück Manhattan im Fichtelgebirge.

Die "Macherei" in Berg am Laim wirkt mit Blick auf die umliegende Tristesse so wohltuend urbanisierend wie ein Stück Manhattan im Fichtelgebirge.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Von "Macherei" bis "Candid-Tor": Was hinter einem Architektur-Trend steckt, der so wirkt, als hätten sich Zufallsgenerator und Bauklotz-Kiste verbündet.

Von Gerhard Matzig

Die Ausfallstraße heißt so, weil sie als Ort mit Aufenthaltsqualität ein Komplett-Ausfall ist. Aber von allen hässlichen Ausfallstraßen dieser Welt ist die Wasserburger Landstraße in München ein ganz besonderes Dorado des Elends. Auf ihrem kreissägenhaft brachialen Weg durch den Osten der Stadt wechselt sie mehrfach den Namen, als befände sie sich in einer Identitätskrise. Aus der Berg-am-Laim-Straße wird erst die Kreillerstraße, dann die Wasserburger Landstraße. Gesäumt wird die sogenannte Hauptverkehrsachse, auf der hauptsächlich der automobile Pendler-Irrsinn verkehrt, vom Darkroom der Dönerbuden, Wettanbieter, Nagelstudios und Autohändler. Die SZ wohnt übrigens ebenfalls in ihrem Umgriff. Wie der Autor auch. Stadträumlich quert die Magistrale in etlichen (nicht allen) Teilen sämtliche Höllenkreise, die man aus Dantes "Inferno" kennt. Architektonisch grenzt dieses Suburbia des Schreckens an Körperverletzung.

Schon deshalb atmet man auf, wenn man im Winkel zwischen der Berg-am-Laim-Straße und der Weihenstephaner Straße auf die "Macherei" trifft. Insofern müsste man die Architektur-Kooperation dreier Büros, die das 26 400 Quadratmeter große Areal so differenziert wie eine Stadt in der Stadt entwickelt und kürzlich vollendet haben, mit der München-leuchtet-Medaille auszeichnen. Zu nennen sind die Büros HWKN Architecture (New York), Holger Meyer Architektur (München) sowie Ochs Schmidhuber Architekten (München). Auf fast 75 000 Quadratmetern sind Räume für Büros, Hotel, Coworking, Einzelhandel, Fitness und Gastronomie entstanden, leider wieder mal ohne Wohnungen, die mit Blick auf die umliegende Tristesse so wohltuend urbanisierend wirken wie ein Stück Manhattan im Fichtelgebirge.

Der Grund für diese Reanimation - der Stadtplanung sowie den Architektinnen und Architekten sei dafür ausdrücklich gedankt - liegt aber interessanterweise an einer Architekturstrategie, die auch das Zeug dazu haben könnte, in Zukunft als womöglich dominant werdendes Würfelhusten-Virus pandemisch zu werden. Als Modetrend macht sich die Tetris-Strategie am Bau vielerorts bemerkbar. Unumstritten ist das nicht. Was völlig richtig ist angesichts einer Architekturmode, die wie jede Mode Fans und Kritiker auf den Plan ruft. Man selbst, täglich durch die Höllenkreise der Ausfallstraße in München-Ost radelnd, würde die Macherei gern umarmen. Allein schon für ihre Fähigkeit, mitten im gottverdammten Münchner Osten nicht wie der gottverdammte Münchner Osten auszusehen. Obwohl die Architektur etwas geschmäcklerisch ist: Als Strategie der Differenzierung ist das Ganze gelungen.

Wie Tetris - nur umgekehrt

Das Tetris-Prinzip ist als Computerspiel bekannt, in dem man geometrische Formen so lange verdreht, bis sie sich passgenau zu einem Ganzen fügen. Aus Mehrteiligkeit wird eine glatte Großform. Genau das Gegenteil betreibt die Macherei: Hier sind die Fluchtlinien der vier unterschiedlich akzentuierten Baukörper des Ensembles sowie deren Höhenlinien von jedweder Passgenauigkeit befreit. Aus der Ferne erinnert das Areal voller Vor- und Rücksprünge, Risalite und Auskragungen an eine Ansammlung von nachlässig gestapelten Bauklotz-Gebilden, die jemand errichtet hat, der keine Lust mehr hatte, die Kanten auszurichten.

Ein kindlicher Furor ist dem scheinbar planlosen Umgang mit Geometrien und Volumina kaum abzusprechen. Aber genau das erzeugt - zusammen mit einem Dach, das als heterogene Dachlandschaft bemerkbar wird - eine differenzierte Fassaden-Struktur. Was durch die Verwendung unterschiedlich farbiger Materialien und Texturen sowie mit Hilfe zwischenräumlicher Varianz noch unterstützt wird. Die aufgelösten Fassaden, die sich perspektivisch weiten und verdichten, die von Zonen, Plätzen und Gassen durchzogen sind, erzeugen eine suggestive Plastizität.

Zeitgeist: Mehr als ein halbes Dutzend Kuben, versetzt aufeinander geschichtet, sollen das Candid-Tor in Untergiesing bilden.

Mehr als ein halbes Dutzend Kuben, versetzt aufeinander geschichtet, sollen das Candid-Tor in Untergiesing bilden.

(Foto: MVRDV)

Dass die Würfel-Mode virulent ist, belegen auch andere Beispiele. In Untergiesing wird etwa das noch nicht existente "Candid-Tor" diskutiert. Auch abseits der Stadtgestaltungskommission sorgt das 64 Meter hohe Gebilde am Candidplatz, am Mittleren Ring gelegen, für begeisterte Zustimmung und vehemente Ablehnung. Der Entwurf stammt von dem niederländischen Architekturbüro MVRDV, das zu den Miterfindern der weltweit herumgereichten Hochstapler-Architektur zählt. In diesem Fall würden sich mehr als ein halbes Dutzend Kuben, versetzt aufeinander geschichtet, zu einem torförmigen, skulptural ausstrahlenden Baukörper verbinden, der etwas faszinierend Dynamisches hat. Wie manche finden. Oder einsturzgefährdet erscheint. Wie andere anmerken.

Wer Kenner der Baugeschichte nach dem Phänomen der scheinbar wahllos hingewürfelten, aber (idealerweise) präzise durchdachten Bauklotz-Architektur befragt, erhält zum Beispiel von Johannes Ernst von Steidle Architekten den klugen Hinweis auf eine junge Urmutter der Schachteltürme. Es ist das New Museum of Contemporary Art in New York, errichtet nach Plänen des Büros SANAA aus Tokio. Seit 2007 erheben sich sechs zeichenhaft gestapelte Boxen, durch deren Verschiebung Terrassen oder Skylights erzeugt werden, in Manhattan.

Zeitgeist: Das New Museum of Contemporary Art wurde nach Plänen des Büros SANAA aus Tokio errichtet.

Das New Museum of Contemporary Art wurde nach Plänen des Büros SANAA aus Tokio errichtet.

(Foto: Massimo Borchi/imago images)

Wer sich dieses Gebilde, es ist innen- und außenräumlich überzeugend organisiert (und genau auf diese Kongruenz eines sinnvollen Raumgewinns kommt es an), ins Gedächtnis ruft, ahnt, dass München am Mittleren Ring ein bisschen New York spielen will. Aber ist diese Sehnsucht, die auch eine Seh-Sehnsucht sein könnte, nicht berechtigt? Außer dem Landtagsabgeordneten Robert Brannekämper, CSU, fällt einem eigentlich niemand ein, dem man zutraut, den Mittleren Ring in Untergiesing im Zweifel der Bowery im südlichen Manhattan vorzuziehen.

Wie immer bei Architektur-Moden, das ist im Fall der Tetris-Entwurfsstrategie nicht anders, stellt sich die Frage, ob der Trend nachhaltig ist und sinnstiftend wirkt - oder eben nur ein Trend als Spielerei und somit möglicherweise überflüssig ist. Der Hinweis auf das "Modische" in der Baukunst geht meist mit Kritik einher, aber man muss sich auch in Erinnerung rufen, dass alle Baustile, selbst die Gotik, einmal als Mode angefangen haben. Es geht stets um Formerfindungen, Innovationen, Interpretationen - und auf jeden Fall auch immer um die Erkenntnis, dass Architektur nach einer Sentenz von Lebbeus Woods die "öffentlichste aller Künste" ist. Deren Schauwerte, so auch das, was entweder nur angesagtes Spektakel oder doch auch schon Herzschrittmacher der Baukunst ist, werden daher immer mitverhandelt in eben jener Öffentlichkeit. Dass über manche Bauten gestritten wird, ist eher ein Hinweis darauf, dass sie offenbar etwas Herausforderndes haben, worüber man streiten kann.

Zur Erinnerung: Die manifestartige Schrift "Ornament und Verbrechen" von Adolf Loos ist mehr als ein Jahrhundert alt. Sie gehört zu den Gründungsdokumenten einer Moderne, die sich im Kontext eines wuchernden Bau-Dekors und überschießender Ornamentik, also im Historismus, auf begründete Weise gegen ein Zuviel an Zuckerbäckerei am Bau richtet. Doch hat diese Ernüchterung (und weil Ornamente Geld kosten) nicht nur die Klassische Moderne und ihre Bauhaus-Lust an der Schönheit der Leere hervorgebracht, sondern auch Formarmut, Ambitionslosigkeit und gähnende Langeweile verursacht.

Wenn Projekte wie Macherei oder Candid-Tor in unterschiedlichen Kontexten für eine Reanimation der Schauwerte und der räumlichen Differenzierung werben, hat das viel mit dem Defizit an einer Stadt-Architektur zu tun, die mehr zu bieten hätte als die ordentliche Aufgeräumtheit von Schuhschachteln. Albert Einstein wird der Satz "Gott würfelt nicht" zugesprochen. Die zeitgenössische Architektur würfelt aktuell schon. Gelegentlich - vielleicht aber auch: noch - ist man dafür inmitten der öden Nordkoreahaftigkeit unserer Stadtwüsten dankbar.

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