Ein Antiquar vom alten Schlag:Wo die wilden Bücher wohnen

Ein Antiquar vom alten Schlag: "Ich würde nirgends gerne leben ohne Bücher": Rainer Köbelin in seinem Antiquariat in der Schellingstraße.

"Ich würde nirgends gerne leben ohne Bücher": Rainer Köbelin in seinem Antiquariat in der Schellingstraße.

(Foto: Stephan Rumpf)

Drei Leidenschaften prägen das Leben von Rainer Köbelin: sein Antiquariat, das Fechten und der Stepptanz. Was aber geschieht mit all seinen Büchern, wenn er den Laden schließt? Da macht er sich keine Illusionen.

Von Hans Holzhaider

Alte Bücher, sagte die englische Schriftstellerin Virginia Woolf, seien wie wilde, heimatlose Vögel: "Sie versammeln sich in großen Schwärmen mit vielerlei Gefieder, und ihnen wohnt ein Zauber inne, der ihren zahmen Artgenossen in den Büchereien fehlt."

In der Schellingstraße 99 in München-Schwabing hat sich ein solcher Schwarm niedergelassen, und sein Hüter ist Rainer Köbelin. Er liebt alte Bücher. "Je älter, desto lieber sind sie mir", sagt er. Besonders liebt er schöne Bücher. Ein Einband aus feinem, roten Maroquinleder, ein schönes Vorsatzpapier, liebevoll ausgeführte Illustrationen - das sind, sozusagen, die Paradiesvögel in seinem Bücherschwarm. "So ein Buch wegzuwerfen, das würde mir extrem widerstreben", sagt er. Und doch sieht er voraus, dass genau das einmal das Schicksal der bei ihm versammelten wilden Bücher sein wird. Er ist 84 Jahre alt, und einer der letzten seiner Art: Antiquare, die ihre Bücher in einem Laden anbieten, statt sie über das Internet zu vertreiben. Was wird sein, wenn er einmal aufhört? "Altpapier", sagt er. "Antiquariate sind unverkäuflich. Das sind die Zeitläufte, da bin ich Realist. Alles andere ist Quatsch."

Ein Antiquar vom alten Schlag: Wenn er sein Geschäft einmal schließt, dann landen all die Bücher im Altpapier. Da macht sich Rainer Köbelin nichts vor.

Wenn er sein Geschäft einmal schließt, dann landen all die Bücher im Altpapier. Da macht sich Rainer Köbelin nichts vor.

(Foto: Stephan Rumpf)

Auf eine gewisse Art ist Rainer Köbelin selbst ein Paradiesvogel. Nicht, weil er seine starkfarbigen Hemden gern mit bunt gemusterten Krawatten kombiniert. Rainer Köbelin ist ein Mensch, der sich glücklich schätzt, weil er sich sein Leben lang, meist erfolgreich, darum bemüht hat, nur das zu tun, was ihm Spaß macht. Alte Bücher sind nur eine von drei Leidenschaften, denen er frönt. Die anderen beiden sind Fechten und Stepptanzen.

Wie passt das zusammen - die beschauliche, stille Welt der Bücher, die Dramatik des Fechtkampfes, das rasante Klackedi-Klickedi-Klack des Stepptanzes? Das mag mit Rainer Köbelins Eltern zu tun haben. Sein Vater, Jahrgang 1903, stammte zwar von einem Bauernhof im Badischen, aber mit der Landwirtschaft hatte er nichts im Sinn. Er wollte Journalist werden, schon in den 30er Jahren schrieb er für die Münchner Neuesten Nachrichten, den Vorgänger der Süddeutschen Zeitung. Sehr alten und langjährigen SZ-Lesern mag der Name Karl Köbelin noch ein Begriff sein: 24 Jahre lang, von 1946 bis zu seiner Pensionierung 1970, berichtete er für die SZ aus dem Bayerischen Landtag.

Und Karl Köbelin war ein Büchermensch. "Er war ein seriöser Sammler alter Bücher", berichtet sein Sohn Rainer. "Die Bibliothek war sein Heiligtum, von klein auf waren wir mit Büchern konfrontiert." Mit Sport, erinnert sich der Sohn, hatte der Vater "nix am Hut", außer dass er gern in die Berge ging. "Er war ein sehr schweigsamer, bescheidener Mensch."

Das Sportliche und das Künstlerische kamen eher von der Mutter. Amanda Schwinzer, die unter dem Künstlernamen Marga Kalin auftrat, tanzte, sang und fuhr Rhönrad. Karl Köbelin lernte sie kennen, als sie 1931 im Münchner Kabarett "Bonbonniere" auftrat. "Mit keckem Mute" sei die junge Dame "eigens von Würzburg herbeigeeilt, um sich im Studio zu produzieren", schrieb die Münchner Telegrammzeitung, "sie sang zur Laute mit einer recht sympathischen Stimme; als Stepptänzerin machte sie später noch mehr Furore".

Fechten wie diese Teufelskerle, das wollte er lernen

Und so hat der Sohn wohl von der Mutter seine Abneigung gegen Tätigkeiten, die mit längerem Stillsitzen verbunden sind. "Die Schule" - das humanistische Theresiengymnasium - "war mir kreuzzuwider", sagt Rainer Köbelin. Auf das Abitur verzichtete er, da ging er lieber ins Kino. Die Mantel- und Degenfilme der 40er- und 50er Jahre hatten es ihm angetan, "Die drei Musketiere", "Robin Hood, König der Vagabunden", "Zorro", "Der Herr der sieben Meere". So zu fechten wie diese Teufelskerle, das wollte er auch lernen. Auf späteren Fotos sieht man ihn mit einem Menjoubärtchen, genau wie sein Leinwandidol Errol Flynn.

Aber wie sollte er das anfangen? "Das kannst später machen, wennsd Geld verdienst", beschied ihn sein Vater.

Aber Rainer Köbelin ist keiner, der schnell aufgibt. In einem kleinen Antiquariat in der Lindwurmstraße fand er ein Fechtlehrbuch: "Säbelfechten - Schule und Kampf", von einem gewissen Carl Stritesky. "Das beste Fechtbuch, das ich je hatte", sagt Rainer Köbelin, und das will etwas heißen, denn inzwischen besitzt er mehrere hundert. Dieser Stritesky war Universitätsfechtmeister und Fechtlehrer beim Männerturnverein (MTV) München. Köbelin stellte sich bei ihm vor, und Stritesky, freundlich gestimmt, weil der junge Mann sein Fechtbuch so gut fand, nahm ihn als Schüler. Rainer Köbelin und das Fechten - das wurde eine Liebe fürs Leben.

Ein Antiquar vom alten Schlag: Fechten - eine Liebe fürs Leben. Noch heute unterrichtet der 84-Jährige Bühnenfechten.

Fechten - eine Liebe fürs Leben. Noch heute unterrichtet der 84-Jährige Bühnenfechten.

(Foto: Stephan Rumpf)

Noch heute, mit 84, gibt er im Studio Mandolin in der Grillparzerstraße in Haidhausen Unterricht im Bühnenfechten. "Ich wollte ja nie Turniere gewinnen", sagt er, "mir gefällt das Fechten als solches". Beim Bühnenfechten kommt es darauf an, dass das Publikum etwas zu sehen bekommt, nicht wie beim modernen Sportfechten, wo die Aktionen so blitzschnell ablaufen, dass keiner mitkriegt, was da passiert. Und so übt er mit seinen Schülerinnen die klassischen Angriffe und Paraden - Prim, Seconde, Terz, Quart, Quint - und die Fechtetikette, die Grußzeremonien der Kadetten und der Musketiere am französischen Königshof, und es macht ihm einen Heidenspaß.

Ein Antiquar vom alten Schlag: Theorie zur Praxis: Selbstverständlich gibt es im Antiquariat Köbelin zahlreiche Werke über die Fechtkunst.

Theorie zur Praxis: Selbstverständlich gibt es im Antiquariat Köbelin zahlreiche Werke über die Fechtkunst.

(Foto: Florian Peljak)

Im Kino gab es noch etwas zu sehen, das Rainer Köbelin faszinierte: Stepptanz. Gene Kelly in "Ein Amerikaner in Paris", Fred Astaire "Singin' in the Rain". Er war ja auch stepptanzmäßig vorbelastet von seiner Mutter. Also nahm er auch Unterricht im Stepptanz. Er fuhr öfter nach Paris, da gab es "den einzigen Händler, der nur mit Fechtartikeln gehandelt hat". Dort legte Rainer Köbelin den Grundstein für seine phänomenale Sammlung von Fechtartikeln und Fechtliteratur. Und wie es der Zufall will - in Paris lernte er einen der weltbesten Stepptänzer kennen, George Taps King, einen Tunesier, der sogar als Partner von Gene Kelly aufgetreten war, "ein totaler Fanatiker, genau wie ich". Viele Jahre lang war Rainer Köbelin als Stepptänzer aktiv, zusammen mit George Taps King trat er in München im Theater an der Leopoldstraße auf. Das brachte auch ein bisschen Geld, denn noch hatte er nicht wirklich ein sicheres finanzielles Auskommen. Er schlug sich mit allerlei Jobs durchs Leben, und viel Geld brauchte er ja nicht, denn er wohnte noch im Hotel Mama.

Ein Antiquar vom alten Schlag: Ein Münchner in Paris: Dort lernt Rainer Köbelin einen der weltbesten Stepptänzer kennen.

Ein Münchner in Paris: Dort lernt Rainer Köbelin einen der weltbesten Stepptänzer kennen.

(Foto: privat)

1967, Rainer Köbelin war 29 Jahre alt, eröffnete er sein eigenes Antiquariat in der Amalienstraße. Es war nur ein ziemlich kleiner Raum, und sein Sortiment bestand aus zwei Waschkörben voll alter Bücher, überwiegend Kinderbücher, die er sich zusammengekauft hatte. Ein Freund, auch Antiquar, überließ ihm einiges als Kommissionsware. "Damals ging man zweimal die Woche auf einen Büchertermin, da war der Opa gestorben, und die Erben wussten nicht, wohin mit den Büchern". So entwickelte sich das. 17 Jahre blieb er in der Amalienstraße, dann wollte der Hausbesitzer lieber Gastronomie in seinem Anwesen haben, das war wohl lukrativer. Rainer Köbelin zog um in die Schellingstraße 99. Das sei, sagt er, "am toten Ende der Schellingstraße", schon nicht mehr wirklich im Universitätsviertel, wo Antiquariate eigentlich ihre Heimat haben, aber dafür war die Miete erschwinglich.

In jenen 70er, 80er und auch noch 90er Jahren des letzten Jahrhunderts war der Handel mit alten Büchern etwas, das Liebhaber magisch anzog. Wer alte Bücher sammelte - seien es alte Kochbücher, Kinderbücher, alte Karl-May-Ausgaben, Literatur über die Kolonialkriege oder über die Reiseabenteuer Sven Hedins - der zog durch die Antiquariate, stöberte in den raumhohen Regalen, zog dieses und jenes Buch heraus, fand oft etwas, das er gar nicht gesucht hatte. Ob Paris oder London, Dublin oder New York - Antiquariate waren eine Welt für sich, gerade so, wie Virginia Woolf es geschrieben hatte: Sammelplätze wilder, heimatloser Bücher. Was für ein Glück, wenn man auf ein Exemplar stieß, nach dem man lange gesucht hatte. Wie hätte es den Spaß getrübt, wenn alles, was man sucht, frei verfügbar in mannigfacher Ausfertigung zur Auswahl stünde.

Aber genau das geschah mit dem Handel mit alten Büchern. Das Internet wurde erfunden. Das ZVAB, Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher, betritt die Bühne. Man sucht "Feuer und Schwert im Sudan", von Rudolph Slatin, alias Slatin Pascha, Leipzig 1896, den legendären Bericht eines österreichischen Offiziers aus der Zeit des Mahdi-Aufstands im Sudan? Früher hätte man Dutzende Antiquariate durchkämmen müssen. Heute klickt man ZVAB, und hat 30 Angebote, zwischen 15 und 150 Euro. Der Händler sitzt irgendwo im Nirgendwo, er braucht kein Ladengeschäft in der Großstadt mit horrender Miete, er hat keinerlei Unkosten, die Versandkosten schlägt er auf den Preis.

Den Internet-Handel gibt er schnell wieder auf, er will den Kunden sehen

"Es nervt halt", sagt Rainer Köbelin. Er hat es auch einmal mit dem Internethandel versucht, er hat es schnell wieder aufgegeben. Das ist es nicht, was ihm Freude an seinem Beruf macht. Er will den Kunden sehen, mit ihm sprechen. "Ich habe ja nur ein allgemeines Wissen über Bücher", sagt er, "das Meiste lerne ich von meinen Kunden." Aber die Kunden tröpfeln heute nur noch spärlich in Rainer Köbelins Antiquariat in der Schellingstraße. Abgesehen davon, dass das Internet den ganzen Zauber des Handels mit alten Büchern zunichte gemacht hat - es hat auch die Preise gründlich verdorben. Früher gaben die Preise, die ein Buch bei Auktionen erzielt hat, einen einigermaßen verlässlichen Richtwert. Heute sind die Preise im Internet völlig willkürlich. Neulich, erzählt Rainer Köbelin, habe er einen Titel gegoogelt und habe Preise gefunden von 23 bis 970 Euro - bei gleicher Beschreibung des Zustandes. "Heute ist die Devise: billig, billig, billig", konstatiert Köbelin. "Wenn ich für ein Buch zehn Euro verlange, sagt der Kunde: Das steht aber im Internet für 6,50."

Die Folge: Die Ladenantiquariate sterben aus. 1967, als er anfing, habe es in München allein elf Musik-Antiquariate gegeben, erinnert er sich. Heute gibt es kein einziges mehr. Ein "Münchner Antiquariatsführer" von 2011 verzeichnet 34 Ladenantiquariate - wenn Rainer Köbelin sich den heute anschaut, kann er zwei von drei streichen - die gibt es nicht mehr. Ein Glück, dass er eine gute Rente hat und nicht wirtschaftlich abhängig ist vom Ertrag seines Geschäfts. Der, sagt er, brächte kaum die Ladenmiete ein. Aber solange er aufrecht stehen kann, wird er weitermachen. "Für mich gibt's keinen Tag, an dem ich nicht gern in den Laden gehe", sagt er. "Da fühle ich mich wohl. Ich würde nirgends gerne leben ohne Bücher."

Ein Kunde hat den Laden betreten, er schaut ein bisschen hier, ein bisschen da. Sein Blick fällt auf einen Stapel Lieferungshefte des "Schwäbischen Wörterbuchs", Tübingen 1904. "Was kosten die denn?" "Zwei Euro" sagt Rainer Köbelin. "Ich nehme drei", beschließt der Kunde. Er hat einen Freund, der ist Schwabe und interessiert sich für Sprache und Mundart. "Das ist doch ein tolles Weihnachtsgeschenk", sagt der Kunde.

Ein kleines, wildes Vögelchen hat eine neue Heimat gefunden.

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