Typisch deutsch:Habt ihr einen Knall?

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Feuerwerksmüll vor dem Siegestor in Schwabing nach Silvester. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Bis heute wühlen Silvesterraketen unseren Autor auf - auch noch Tage nach dem Jahreswechsel. Die Feuerwerke bringen Erinnerungen an seine Kriegserlebnisse in Syrien hoch. Er fragt sich, wie es erst den ukrainischen Geflüchteten hier gehen muss.

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Der Übertritt ins neue Jahr ist für mich bis heute eine der größten emotionalen Herausforderungen. Fast mehr noch die Tage danach. Es liegt nicht daran, dass die Menschen den Übertritt feiern. Sondern an den Raketen, die sie in die Luft knallen - und deren Nachhall in meinen Gedanken erklingt. Die Feuerwerke sind zwar längst verglüht und die letzten Reste aufgeräumt. In mir aber wühlen sie etwas auf. Mehr noch, reißen eine innere Wunde auf. So sehr ich mich auch dagegen wehre.

Als ich zwei Monate nach meiner Flucht aus Syrien mein erstes deutsches Silvester erlebte, kam ich direkt aus dem Kriegsgebiet. Ich hörte den Krach von Raketen und explodierenden Granaten in meinen Ohren. Es war das erste Mal, dass ich überhaupt Silvester feierte. Auf dem Münchner Marienplatz schossen Betrunkene mit Feuerwerkskörpern. Ich legte mich auf den Boden und schloss die Augen. Ein syrisches Sprichwort sagt: "Die Trauernden kamen, um sich zu freuen, aber sie konnten ihren Platz nicht finden!" Es war eine der schwierigsten Nächte, seit ich hier bin.

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Innere Wunden heilen manchmal nur sehr schwer, vielleicht auch nie gänzlich. Ich reagierte seinerzeit sehr empfindlich auf explosionsartige Geräusche, es wurde zwar weniger schlimm, dennoch lösten sie auch diesmal wieder Flashbacks aus, wie man sie vielleicht nur kennt, wenn man schon einmal ein Trauma durchlebt hat.

Die Silvesterfeuerwerke sind in Deutschland zurückgekehrt, und mit ihnen die Frage geklärt, ob sich die Lust am "Schiassn", wie es bei mir zu Hause in Kirchseeon heißt, eventuell erledigt hat. Hat sie nicht, die Pandemie hat lediglich eine Zwangspause verlangt. Wenn ich in die Augen der Menschen hier schaue, gönne ich ihnen die Freude, gerade in diesen schwierigen Zeiten. Die Frage für mich und andere wird sein, wie wir damit umgehen.

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Viele nach Deutschland geflüchtete Ukrainer werden sich mit dieser Angelegenheit womöglich noch deutlich intensiver auseinanderzusetzen haben als ich, schließlich liegen bei mir acht Jahre dazwischen, nicht nur wenige Monate. Denke ich noch Tage und womöglich Wochen danach an die Flugzeuge am Himmel? An ihre Brandstreubomben, die diesen Feuerwerken in der Beleuchtung sehr ähnlich sind? Denke ich an die schreienden Kinder, die nicht wie die Münchner Kinder vor Freude und Erstaunen riefen, sondern geprägt von Schmerz und Wunden.

Wie also kriegt man es hin, damit umzugehen? Traumatherapien sind dienlich, aber keine Garantie. Mit Menschen sprechen, darüber schreiben, offen damit umzugehen, das hilft. Gut ist auch der Gedanke, dass die Raketen etwas beschließen. Ein vergangenes Jahr, etwas, das nie wieder kehrt. Am Tag nach der Silvesterfeier waren die Straßen zwar mit Altpapier, Holzstäbchen und Plastik verdreckt. Aber dieser Müll wurde schnell beseitigt, seither ist alles wieder normal.

Wenn der Kopf sich wieder zurückdrehen will, denke ich an die gute Seite dieser Wechseltage: Was mache ich nächstes Jahr als Festessen, wen lade ich ein, wie schmücke ich die Wohnung? Und welche - möglichst ohrenbetäubende - Musik lege ich um null Uhr auf?

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