Nürnberg:Schwebender Hain vor Weltgeschichte

Nürnberg: So könnte künftig der Platz vor dem Saal 600 aussehen - mit einem "schwebenden Baumhain" auf dem Dach des Besucherzentrums.

So könnte künftig der Platz vor dem Saal 600 aussehen - mit einem "schwebenden Baumhain" auf dem Dach des Besucherzentrums.

(Foto: Benter Architektur GmbH, Henningsen Landschaftsarchitekten PartG mbB, Studio Grauwald)

Der Vorplatz am Nürnberger Saal 600 soll künftig ganz anders aussehen - womöglich ein Mosaikstein auf dem Weg der Stadt zum Unesco-Weltkulturerbe.

Von Olaf Przybilla, Nürnberg

Dieser Tage ist im "Cube 600" an der Fürther Straße, auf dem Vorplatz des Memoriums Nürnberger Prozesse, die Ausstellung "Rechtsterrorismus. Verschwörung und Selbstermächtigung - 1945 bis heute" zu sehen. Man wird sie nicht ohne schockartiges Schaudern verlassen. Natürlich, das mörderische Treiben des NSU, der Anschlag von Halle, der Mord an Walter Lübcke, das alles kennt man. Wer aber wüsste Genaueres zu sagen über das vereitelte SS-Attentat auf die Nürnberger Prozesse? Oder über den Rechtsterroristen Helmut Oxner, der 1982 im Zentrum Nürnbergs drei ihm nicht bekannte Menschen ermordete?

Der Ort für diese Ausstellung am Nürnberger Justizpalast und direkt vor jenem Gebäude, in dem der historische Saal 600 untergebracht ist, ist einerseits perfekt gewählt. Im ersten Ausstellungsraum etwa, in dem dokumentiert wird, wie 1946 ehemalige SS-Männer einen Anschlag auf den Prozess gegen die NS-Kriegsverbrecher verüben wollten, in jenem Raum blickt man durchs Fenster direkt auf jenes Justizgebäude, in dem dieser glücklicherweise vereitelte Terrorakt stattfinden sollte. Authentischer dürfte man einen historischen Ausstellungsinhalt kaum präsentieren können.

Nürnberg: Der "Cube 600" ist eine ehemalige Autowerkstatt - und wird temporär für Ausstellungen genutzt.

Der "Cube 600" ist eine ehemalige Autowerkstatt - und wird temporär für Ausstellungen genutzt.

(Foto: Museen der Stadt Nürnberg/matthaeus photographer)

Andererseits ist die Ausstellung im "Cube 600" auch gewagt. Im letzten Raum werden Anschläge dokumentiert, unter denen bis heute Angehörige, Freunde und Bekannte der Opfer leiden. Der Brandanschlag von Schwandorf 1988 etwa, der vier Menschen das Leben kostete. Oder auch der antisemitisch motivierte Doppelmord von Erlangen 1980, dem der deutsche Rabbiner Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke zum Opfer fielen. Erinnert wird an diese Taten in einem Ausstellungsraum, dessen ephemere Werkstatt-Ästhetik für zeitgenössische Artefakte gewiss gut geeignet ist. Auf Angehörige aber zu lakonisch wirken kann.

Nürnberg: Während im zweiten Obergeschoss im Saal 600 der Prozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher stattfand parkten vor dem Bau Militärfahrzeuge.

Während im zweiten Obergeschoss im Saal 600 der Prozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher stattfand parkten vor dem Bau Militärfahrzeuge.

(Foto: National Archives, College Park, MD, USA)

Tatsächlich war dieser White Cube auf dem Platz vor dem Saal 600 viele Jahrzehnte lang eine Werkstatt, und zwar eine Autowerkstatt ("Pitstop"), was auf der Fläche vor dem Memorium Nürnberger Prozesse - einem Hauptziel für internationale Touristen - einen bestenfalls kuriosen Eindruck machte. Vor dem Zweiten Weltkrieg stand zwischen der Fürther Straße und dem Ostflügel des Justizpalastes das zweigeschossige Gasthaus "Bräuhäusl", dessen Ruinen nach 1945 abgerissen wurden, nachdem die Alliierten beschlossen hatten, den NS-Kriegsverbrechern in Nürnberg den Prozess zu machen.

Der Platz vor dem Justizbau wurde daraufhin zunächst als Parkplatz genutzt. Später entstanden dort Garagen und die Gebäude einer Autowerkstatt, was als untrüglicher Beweis gelten darf, dass man sich im Nürnberg der Nachkriegsjahre vieles hatte vorstellen können. Ganz sicher aber nicht, dass der Saal 600 dereinst zu einem Hotspot für internationale Touristen werden könnte - und schon gar nicht zum wesentlichen Inhalt einer Bewerbung als Unsesco-Weltkulturerbe. Im Saal 600 haben dann auch nur zwei Original-Holzbänke die Sechzigerjahre überlebt: Als das Gericht den Saal von den Alliierten zurückbekam, räumte es erstmal gründlich auf - und vernichtete das historische Mobiliar.

Inzwischen ist klar, dass sich Nürnberg mit dem Justizpalast samt Memorium und Saal 600 um den Welterbetitel bewirbt, als einem Geburtsort des Völkerstrafrechts. 2021 versandten Stadt und Freistaat die Bewerbungsunterlagen an die Kultusministerkonferenz. Zur etwa selben Zeit wurde der "Cube 600" eröffnet, nachdem sich die Stadt mit dem ehemaligen Pitstop-Eigentümer über das Grundstück geeignet hatte. Auch diese Ausstellungsräume sind freilich nur als temporäre Nutzung gedacht. Längerfristig nämlich hat die Stadt ganz andere Pläne mit dem Platz. Nach Gasthaus-, Militärparkplatz-, Autowerkstatt und Ausstellungsnutzung soll auf dem Areal vor dem Ostflügel des Justizpalastes in nicht allzu ferner Zukunft das Besucherzentrum des Memoriums Nürnberger Prozesse entstehen. Wann exakt und mit welchen Mitteln genau das so sein wird, werde die Zeit weisen, sagt Nürnbergs Baureferent Daniel Ulrich.

Einstweilen verfügt die Stadt über einen Siegerentwurf eines "Ideen- und Realisierungswettbewerbs". Einstimmig fiel die Wahl der Jury auf einen Entwurf des Hamburger Büros Benter Architektur, das für seine Arbeit mit den Berliner Landschaftsarchitekten Henningsen zusammengearbeitet hat. Der klare und strenge Baukörper, so würdigt es die Jury, halte den Blick von der Fürther Straße auf den denkmalgeschützten Justizpalast weitgehend frei und werde damit dem historischen Ort gerecht, ohne dass sich der Neubau in den Vordergrund dränge - wenngleich die "ungewohnte Geste" eines "schwebenden Baumhains" auf dem Dach durchaus "eine in ihrer Mehrdeutigkeit angemessene architektonische Ausdrucksform für diese besondere Aufgabe" darstelle.

Untergebracht werden sollen in dem Neubau Foyer, Kasse, Seminarräume und Gastronomie des Memoriums. Insgesamt erhofft sich die Stadt von dieser Umgestaltung einen Ort, der "der weltgeschichtlichen und musealen Bedeutung des Stadtraumes gerecht" wird. Dass auch die Kultusministerkonferenz oder gar die Unesco von diesen Platzplänen beeindruckt werden soll, sagt in Nürnberg niemand. Auf einen winzigen Mosaikstein auf dem Weg zu einer womöglich erfolgreichen Bewerbung als Welterbe dürfte die Stadt freilich schon hoffen.

Bei einem ersten Versuch, mit dem weltberühmten Gerichtssaal auf der Vorschlagsliste des Bundes für die Unesco aufgenommen zu werden, waren Nürnberg und der Freistaat vor acht Jahren noch gescheitert. Im neuen Besucherzentrum soll nun auch - laut Stadtunterlagen "abhängig" vom Bewerbungsverfahren - eine "kostenlos zugängliche Fläche eingerichtet" werden. Informiert würde dort über das Unesco-Weltkulturerbe.

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