Katholische Kirche:Der emeritierte Papst und sein Tod

Katholische Kirche: Gedenken an den verstorbenen Papst Benedikt XVI.

Gedenken an den verstorbenen Papst Benedikt XVI.

(Foto: IMAGO/ULMER Pressebildagentur/Bearbeitung: SZ/IMAGO/ULMER Pressebildagentur/Be)

An Benedikt XVI. scheiden sich die Geister. Die einen preisen seine Theologie, die anderen sehen vor allem seine Versäumnisse und die Missstände in der Kirche.

"Mein Lieblingspapst" vom 3. Januar, "Raum für Reformen", "Die Kirche, die es nie gab", "Himmel und Herde" und "Ein Mensch" vom 2. Januar und weitere Artikel:

Sich selbst zurücknehmen

Da sage noch einer, der emeritierte Papst Benedikt XVI. habe kein Händchen für den richtigen Moment gehabt habe. Er trat - seit 700 Jahren nicht mehr erlebt - als lebender Papst zurück. Und nun tritt er an Silvester von dieser Erde ab. Dieser deutsche Papst hatte dem Land nach seiner Wahl 2005 gutgetan. Dass nicht alle damit verbundenen Erwartungen erfüllt werden konnten, das wusste er und hat ihn beschwert. Der Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen vor fast einem Jahrzehnt war der richtige Schritt. Diese Bescheidenheit, freiwillig Macht abzugeben, kannte die katholische Kirche nicht mehr. Dieses Sich-selbst-Zurücknehmen und Nicht-so-wichtig-Nehmen, das hätte auch ein Vorbild für die ebenso wie Benedikt 2005 ins Amt gewählte deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sein können.

Das bleibt die wohl wichtigste Hinterlassenschaft des klugen Theologen. Die Kraft seines Geistes überragte viele. Viele Spötter und Neider rief er damit auf den Plan. Seine eigene Lebensschuld trug er gern nach außen in einer Maxima Culpa, auch wenn sie tatsächlich als Existenz stets nur eine Minima Culpa war.

Dr. Detlef Rilling, Scharbeutz

Pompöse Selbstdarstellung

"Benedikt XVI. ist es als erstem Theologen seit Martin Luther gelungen, die Macht der katholischen Kirche zu erschüttern", schreibt Willi Winkler. Wie könnte man treffender Tun und Wirkung von Joseph Ratzinger aus Marktl am Inn auf den Punkt bringen? Schon früher habe ich mich gefragt, ob sich dieser Papst nicht manchmal merkwürdig vorkommt: XXL-Stola in Rot und Gold, überdimensionaler Spitzhut mit Schnörkeln und Perlen, dazu allerhand andere aus der Zeit gefallene Insignien pompöser Selbstdarstellung. Die Botschaft des Evangeliums im Zwielicht.

Karl Martell, Leinfelden-Echterdingen

Entscheidung für die Karriere

Joseph Ratzinger und Hans Küng waren in den 1960er-Jahren als Professoren für katholische Theologie an der Uni Tübingen mit ihrer klaren Orientierung am Evangelium Jesu Christi Hoffnungsträger für eine Erneuerung der katholischen Kirche. Hans Küng ist seiner Überzeugung treu geblieben und hat mit seinen Büchern weltweit kritischen Menschen ein Verbleiben in dieser Kirche ermöglicht.

Joseph Ratzinger hat sich für eine Karriere in der katholischen Kirche entschieden. Er hat sich dafür von seinen früheren kritischen Publikationen distanziert. In seiner neuen Rolle als "Großinquisitor" war ihm das Ansehen der Kirche wichtiger als die Aufklärung von Sexualdelikten und anderen Missständen. Er trägt wesentliche Verantwortung für den kläglichen Zustand der katholischen Kirche und dafür, dass allein in Deutschland jährlich mehrere Hunderttausend diese Kirche verlassen.

Oskar Lotz, Tutzing

Bedingungslose Liebe

Werner Jeanronds Charakterisierung von Joseph Ratzinger ist meiner Meinung nach sehr zutreffend. Er hatte ein gutes Gespür für das Wesen des Christentums, denn Liebe ist in der Tat das Zentrum des christlichen Glaubens. Ich sah und hörte ihn zweimal bei einer Audienz auf dem Petersplatz.

Liebe geschieht in der Begegnung mit einem anderen Menschen. Dabei kommen Prozesse in Gang, die bisher leider nicht ausreichend bekannt sind: Die Position des Menschen hat maßgebenden Einfluss, das heißt, es gibt einen dominanten Teil und einen schwachen. Wenn der Dominantere menschlich unreif ist, nutzt er den Schwächeren aus und zerstört ihn. Da Kirche eigentlich reif und wissend sein sollte, wären, wie Joseph Ratzinger sagt, Liebeskonflikte dort ausgeschlossen, wodurch die Liebe befreiend, erlösend und neu belebend wirkt. Diese nach Joseph Ratzinger harmonische Liebe schafft den neuen Menschen à la Jesus Christus. Das ist die große Leistung dieses größten katholischen Theologen aller Zeiten. Leider beweisen die Missbrauchsfälle, dass es diese Kirche nie gab. Zumindest nicht im Großen, sondern nur in unbekannten Einzelfällen, da ein Einzelner so eine Liebe in dieser unerbittlichen Welt nicht durchhalten kann; auch mit seiner weltlichen Kritik hatte Ratzinger recht. Jetzt ist er gestorben, und die Kirche wird so weiterwursteln, denn der synodale Weg sowie andere Reformansätze treffen nicht den entscheidenden Punkt: die bedingungslose Liebe von Jesus Christus.

Priska Alice Ruth Gehring, Freiburg im Breisgau

Liebe ohne Glaube und Hoffnung

Da liest man diese paradoxe Liebeserklärung an den verstorbenen Papst Benedikt XVI., die ihn einerseits zum Wiedergänger von Dostojewskis Großinquisitor stilisiert und andererseits dafür rühmt, dass er als fehlbarer Papst die katholische Kirche (unbeabsichtigt) erschüttert haben sollte wie einst Martin Luther. Am Ende wird einem ausgerechnet John Lennon als "großer Kirchenlehrer" anempfohlen. Nun mag man "All you need is love" noch goutieren, aber seine Glaubenshymne "Imagine" steckt voller subtiler und subkutaner Aggressivität. Natürlich soll es, wie in der Engelsbotschaft an Weihnachten (Lk 2,14) "Friede auf Erden" werden. Alles aber, was dem entgegenzustehen scheint, wird der Furie des Verschwindens wie einem Fegefeuer überantwortet: Der religiöse Himmel (heaven) soll verschwinden, nur noch der kosmische (sky) darf bleiben, der am irdisch-menschlichen Geschehen und Geschick wenig Anteil zu nehmen scheint. Länder mit ihren Grenzen sollen sich auflösen, Religionen darf es nicht mehr geben, auch kein Eigentum. Und was gibt es stattdessen? Das große Wir, eine "Bruderschaft", zu der alle gehören werden, in der es keine wirklichen Unterschiede mehr gibt. Die ganze Welt wird eine Einheit. Erinnert das nicht fatal an das Kirchen- und Weltbild, wie es Winkler als das Benedikts XVI. entlarven möchte? Dem entgegen stehen die drei zusammengehörenden Botschaften der Engel bei der Geburt Christi: Ehre gebührt dem einen Gott im wahren Himmel, dessen Wohlgefallen allen Menschen auf der Erde gehört, wie sie eben sind, in ihrer bunten Vielfalt und unübersehbaren Unterschiedenheit, in Ländern und Religionen, mit allem, was zu ihnen gehört.

Man wird skeptisch, wenn man hört, dass man nur Liebe brauche. Sollte sich das gegen Paulus wenden, für den die Liebe zwar die größte ist, aber eben unter "Glaube, Hoffnung, Liebe" (1. Kor 13,13)? Dann würde die Liebe durch ihren Absolutismus ins Gegenteil verkehrt. Eine auf die Gegenwart beschränkte Liebe hätte keine Vergangenheit (Glaube) mehr, von der sie bei aller Kritik an der Tradition herkommt, und wäre auf keine Zukunft (Hoffnung) mehr ausgerichtet, in der die "rettende Gerechtigkeit" (Jürgen Habermas) für die Erniedrigten und Beleidigten, für die Mühseligen und Beladenen Wirklichkeit würde.

Pfarrer Dr. Klaus Wagner-Labitzke, Bad Aibling

Lichtgestalt fehlt

Wegen der vielen Ungerechtigkeiten verlieren viele den Glauben an an die römisch-katholische Kirche. Sie verkommt zu einer "Brauchtumsgesellschaft". Viel mehr als eine schöne Taufe, Firmung, Hochzeit und ein würdiges Begräbnis erwartet sich kaum jemand mehr von ihr. Zu sehr hat sich die Kirche vom Leben der Menschen entfernt. Aus Taufscheinchristen wurden Eventchristen. Das große Interesse am Glauben weicht im Laufe des Lebens bitteren Enttäuschungen.

Im Würgegriff von falschen Traditionen und menschenverachtenden Auslegungen der Bibel hat die Kirche zuerst die Arbeiter und Frauen verloren; nun verliert sie Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung. Für Papst Benedikt wurde aus dem Papstamt ein Fels, den er nicht auf ewig einen Berg hinaufrollen konnte, weil er die Zeichen der Zeit missachtete. Der Kirche fehlt ein Erneuerer, eine Lichtgestalt, ein "unverbohrter" Stellvertreter Christi auf Erden, der die Bibel gründlich durchforstet, damit das lebensbejahende Licht des Glaubens, die Menschheit durchfluten kann. Ein Papst, der die "katholisch-gordischen Knoten", die kirchliche Ungleichheit zwischen Mann und Frau, zerschlägt, den aufgezwungenen Zölibat zertrümmert. Neben der geistigen Liebe muss auch für die gottgegebene, fleischliche Liebe Platz gemacht werden. Die gläubige Welt dürstet nach einer Kirche, die die Bedürfnisse der Menschen, wie die Menschenrechte, nicht niederwalzt und verleugnet.

Egon Hofer, Maria Saal /Österreich

Knallharte Lebensbilanz

"De mortuis nil nisi bene" ist ein über Jahrtausende bewährter Kernsatz humanen Umgangs mit dem Andenken von Verstorbenen. Da geht es nicht um Beschönigung und Vertuschung, sondern schlicht um Anstand, Höflichkeit und Respekt. Wie zu erwarten, wird dieser Grundsatz gegenüber Joseph Ratzinger in Texten wie "Himmel und Herde" in arroganter, selbstgefälliger Weise verletzt. Natürlich hat einer der bedeutendsten Theologen der Neuzeit ebenso gefehlt und geirrt wie der ehemalige Bischof, Kardinal und Heilige Vater. Aber wer von uns möchte noch vor Requiem und Bestattung eine knallharte Lebensbilanz mit eiskalter Abrechnung vorgehalten bekommen, zu der man keine finale Stellung mehr beziehen kann? Journalisten sind keinen Deut moralischer als Theologen. Dass der Mensch Sünder ist, weiß auch der Atheist, wenn er nüchtern auf die Welt schaut. Joseph Ratzinger war dies auch und hat es im täglichen Schuldbekenntnis am Beginn jeder Messe vor Gott getragen. Und auch der Papa emeritus muss sich jetzt vor seinem Herrn dafür verantworten, ebenso wie all jene, die posthum in gnadenloser Weise das ewige Gericht vorziehen.

Thomas Gottfried, Freising

Pietätlos!

Benedikt ist noch nicht richtig beerdigt, da versuchen seine Anhänger, ihre Privilegien und Macht zu sichern: Gänswein will eine schnelle Heiligsprechung (Santo subito) zur Legitimierung der Ratzinger-Schule, andere fordern, dass Gänswein Kardinal werden soll. Kardinal Müller fordert, Benedikt zum "Kirchenlehrer" zu ernennen. Damit soll der kirchenpolitische Kurs von Ratzinger festgeschrieben werden. Wer der katholischen Kirche schaden will, der muss das so machen. Kritik an Papst Franziskus wird laut, um die nächste Papstwahl für einen Anhänger der (ultra-)konservativen Kardinäle zu ermöglichen. US-Theologe George Weigel und Kardinal Müller sind sehr aktiv. Um die Heiligsprechung zu erreichen, müssen die Fehler von Ratzinger (Unterstützung der Integrierten Gemeinde München und anderer ultrakonservativer religiöser Gemeinschaften, Leugnung systemischer Ursachen des vielfältigen, langfristigen Missbrauchs, Unterdrückung der Frauen in der Kirche, Täterschutz statt Opferschutz um die Institution Kirche zu schützen, Unterdrückung freier katholischer Theologie usw.) verharmlost, geleugnet, schöngeredet werden.

Axel Stark, Passau, Diplomtheologe Akademischer Oberrat a.D.

Dispens vom Automatismus

Benedikts XVI. großer Verdienst ist, dass er das Papstamt durch seinen Rücktritt entmystifiziert hat. Die Rufe nach einer baldigen Selig- und Heiligsprechung konterkarieren diese Leistung. Denn: Idealisierung beinhaltet Distanzierung. Wäre es nicht ein schönes letztes Geschenk an ihn: ihn als fehlbaren, unvollkommenen, ja sündigen Menschen bei uns, als einen von uns bleiben zu lassen, seine allzu menschliche Realität anzuerkennen und ihn nicht wegzubefördern in eine idealisierte Ferne?

Die Theologin Doris Reisinger hat die Heiligsprechungen der vergangenen 122 Jahre analysiert und festgestellt, dass der "typische Heilige" "ein weißer europäischer Priester" ist. Bei Päpsten gehört es mittlerweile zur Routine, alle heiligzusprechen. Man würde das Reformpotenzial, das Benedikt durch seinen Rücktritt ermöglicht hat, weiterführen, indem bei ihm dieser fahle Automatismus durchbrochen würde.

Wer hofft, durch eine Heiligsprechung die Schwächen und Fehler des Verstorbenen und deren Folgen für die Kirche ausblenden zu können, wird sich wundern: Die von Sigmund Freud beschriebene "Wiederkehr des Verdrängten" würde das Elend der Kirche nur beschleunigen. Ich bitte Papst Franziskus für seinen Vorgänger um gnädige Dispens von der Pflicht des Sich-heiligsprechen-lassen-Müssens.

Dr. Wilhelm Pecher, München

Hinweis

Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion, sie dürfen gekürzt und in allen Ausgaben und Kanälen der Süddeutschen Zeitung, gedruckt wie digital, veröffentlicht werden, stets unter Angabe von Vor- und Nachname und dem Wohnort. Schreiben Sie Ihre Beiträge unter Bezugnahme auf die jeweiligen SZ-Artikel an forum@sz.de. Bitte geben Sie für Rückfragen Ihre Adresse und Telefonnummer an. Postalisch erreichen Sie uns unter Süddeutsche Zeitung, Forum & Leserdialog, Hultschiner Str. 8, 81677 München, per Fax unter 089/2183-8530.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: